Glanz und Elend der Zitate

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Bildungszitate haben noch immer hohen Gebrauchswert und genießen soziales Prestige. Im geselligen Smalltalk erweisen sich damit Belesenheit und die Gabe der raschen Assoziation. Und sie ersparen dem Sprecher den Aufwand einer eigenen Formulierung. Aber Zitate bergen auch subtile Gefahren. Manchmal verkehrt bereits die geringste Unschärfe den Sinn. Und wird der Kontext vernachlässigt, so verkommt ein festes Gefüge zum wohlfeilen Steinbruch, an dem sich jeder bedienen kann.

Richard Friedenthal, der angesehene Goethe-Biograph, hat eine Kulturgeschichte missbrauchter Dichterzitate gefordert. Die Wendung "Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein" aus dem Osterspaziergang im Faust lässt sich situativ ganz nach Bedarf verwenden. Und eine kleine Veränderung zu "hier kauf ich ein" liefert einem Konzern den (in jedem Wortsinn) billigen Werbeslogan.

Bleiben wir beim Faust: "Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten" aus dem Widmungsgedicht könnte man auch auf eine Schar angeheiterter Personen beziehen. "Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen" mag schon mancher beim Empfang eines Steuerbescheids ausgerufen haben. Für den Freund von TV-Krimiserien entfaltet der Satz "Von Zeit zu Zeit seh' ich den Alten gern" eine pointierte Nebenbedeutung. Und "Der Kasus macht mich lachen" könnte einem Lehrer angesichts haarsträubender Fallfehler entschlüpft sein. Der Trivialisierung sind also keine Grenzen gesetzt.

Aber Scherz beiseite! Bisweilen werden Zitate nicht ganz im Sinne des Autors verstanden, weil sich der Bedeutungswandel eines Wortes verändert hat. Wenn Faust beim Anblick Gretchens ausruft: "Der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an", so meint er damit nicht das Kollektiv aller Menschen. Er zielt vielmehr - nach älterem Sprachgebrauch - auf das Elend und die Brüchigkeit der conditio humana ab.

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