Was ist Glauben?
Ob Gott mich liebt? Ich weiß es nicht. Aber ich hoffe, dass Gott mit Wohlwollen auf meine Taten blickt. Ein Grundsatz Abraham Geigers (1810-74) lautet: "Durch die Erforschung des Einzelnen zur Erkenntnis des Allgemeinen, durch Kenntnis der Vergangenheit zum Verständnis der Gegenwart, durch Wissen zum Glauben.“ Wenn Wissen uns zum Glauben führt, dann spricht aus dieser Erwartung ein großes Vertrauen in die vernunftmäßige Erkenntnisfähigkeit des Menschen.
Ihm wird ein hohes Maß an Mitwirkung bei der Entfaltung von Gottes Offenbarung gegeben, die weit über das einmalige Sinaigeschehen hinausgeht. Wir können verborgene Wahrheiten und Ansichten entdecken, es entstehen Neuerungen, durch die ich als menschlicher Interpret zum Mitschöpfer werde. "Glaube“ wird zu einer spannenden Entdeckungsreise auf dem Weg, den Willen Gottes zu erfassen. Damit verändert und wandelt sich das Judentum von Anfang an. Es hat den Glauben der Erzväter mit der Gesetzgebung am Sinai in Einklang gebracht, mit dem Idealismus der Propheten, mit den praktischen Anliegen der Rabbinen. Es berücksichtigt die sozialen Bedingungen der Gegenwart und reagierte auf zeitgenössische Lebensstile und Einstellungen, auch wenn es sie nicht zwangsläufig nachahmt. Ist es also so wichtig zu wissen, ob Gott mich liebt, ob Gott mich "errettet“ hat, ob ich mit ihm versöhnt bin?
Nach Rabbiner Leo Baeck (1873- 1956) ist das Ziel des Lebens Gerechtigkeit. Diese aber wird durch Werke und Leistungen, durch Pflichterfüllung und das Ringen ums Gebot erlangt. Denn Religion soll kein gutes Gewissen schenken, sondern das Gewissen in einen ständigen Zustand der Unruhe versetzen. Mit der Orientierung auf die sittliche Tat tritt die Frage nach dem Glauben im Judentum in den Hintergrund. Das ist gut so.
* Der Autor, Rabbiner, leitet das Abraham-Geiger-Kolleg in Berlin
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