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Ein Rückblick auf die ars electronica und ihr Thema "Goodbye privacy".

Das Jahr 1984 liegt bereits so lang zurück, dass die visionären Szenerien, die George Orwell damit verknüpfte, kaum noch registriert werden. Die Spannung in der Zeit davor, ob nun die Machenschaften von "Big Brother" tatsächlich eintreffen werden, ist verflogen; aus dem Abstand von 23 Jahren können wir nur mehr einen historischen Blick darauf zurückwerfen. Gerade unsere Alltagstechnologien - vom ans weltweite Netz gehängten Computer über die mobilen Telefone, den Navigationssystemen in unseren Autos bis zu den Kundenkarten in den Geschäften - rechtfertigen die Rückschau: 1984 kann getrost als gute alte Zeit bezeichnet werden. Denn alle diese Technologien, denen wir uns freiwillig ausliefern, die wir aktiv zu unserem Nutzen anwenden, bauen im Hintergrund ein von breiten Benutzerschichten kaum wahrgenommenes Datennetz auf, dem nichts entgeht und das nichts vergisst.

Datennetz allgegenwärtig

Wie sieht die besondere Wechselwirkung zwischen den beiden Polen von Privatheit und Öffentlichkeit aus, zwischen denen jede menschliche Existenz oszilliert? Diese Frage steckt jenes Untersuchungsfeld ab, dem sich die heurige ars electronica bis 11. September aus einem doppelten Interesse heraus verschrieb. Einmal geht es dabei um die sozusagen hausgemachten Probleme für eine Kunstform, die in ihrer Konzentration auf digitale Kunstwelten "Kunstwerke" schafft, die keine Betrachtung aus einem gesicherten Abstand heraus verlangt, wie etwa ein Ölbild eines so genannten alten Meisters, sondern Mitspieler. Die Betrachter werden zu Agierenden, die aktiv eingreifen müssen, damit das "Kunstwerk" überhaupt erst mit seiner Arbeit beginnen kann. Da viele dieser Arbeiten im Internet stattfinden, wird die politische Dimension dieser künstlerischen Äußerungen - auch wenn sie inhaltlich zunächst völlig unpolitisch daherkommen - aufgrund der Gesetzmäßigkeiten des Internets automatisch mitgeliefert.

Längst schon dienen die digitalen Aufzeichnungsinstrumente auch dazu, für Wirtschaft und Staat aus den Spuren, die wir in der digitalen Welt beim Surfen im Netz oder beim Plaudern über das mobile Telefon hinterlassen, einen "Datenkörper" zu basteln. Sind einige verstreute Daten noch harmlos, so führt der weltweite Zusammenschluss von riesigen Datenspeichern dazu, dass uns immer weniger Verstecke bleiben. Marketingexperten und Geheimdienste erstellen so Persönlichkeitsprofile, um uns im richtigen Moment jenes Produkt anzubieten, das wir laut Profil dann auch bereitwillig kaufen, oder wir landen auf einer Personenliste, die vielleicht einen Bonus für Vielflieger bringt, die aber genauso gut die Einreise in ein Land verbieten kann, bloß weil es vor ein paar Jahren ein Telefonat mit einer Firma gab, die aus staatspolitischer Sicht unsaubere Geschäfte betrieb - was dem damaligen Kunden natürlich nicht bewusst war.

Gespeichert für immer

Weil die digitale Welt nichts vergisst, kennt sie uns besser als wir uns selbst. Wer analysiert sein eigenes Verhalten schon dermaßen lückenlos, dass er oder sie noch weiß, was vor drei Jahren zum Beispiel auf dem Speiseplan von Flug von X nach Y stand. Der Großteil dieser unzähligen kleinen Tätigkeiten des Alltags fällt aus Überlebensgründen unserem aktiven Vergessen anheim. Die digitale Welt kann es sich aber leisten, jedes Detail bis zum Sanktnimmerleinstag präsent zu halten, in diesem Sinne ist ihr Wissen über uns umfassender als unser Eigenes.

In eine ähnliche Kerbe schlägt die Manie mancher Staaten, ihre Bürger immer und überall per Video festzuhalten. Manu Luksch unterzog mit ihrem Video Faceless die gesetzliche Lage in Großbritannien bezüglich der Videoüberwachung einer künstlerischen Untersuchung. Jeder von einer Überwachungskamera Gefilmte hat dort das Recht, eine Kopie dieser Aufnahmen zu bekommen, auf denen dann allerdings die Gesichter aller anderen auf dem Band auftretenden Personen unkenntlich gemacht werden müssen. Luksch inszenierte viele Auftritte ihrer eigenen Person in der Überwachungswelt, um deren Herausgabe beantragen zu können. Diese Videomitschnitte dienten dann als Grundmaterial, quasi als digitale Readymades für ihr Video. Das Ergebnis ihrer Analyse lässt aber berechtigte Zweifel aufkommen, ob ein System seine Berechtigung hat, das den bisherigen Rechtsgrundsatz, dass der Ankläger den Beschuldigten überführen muss und nicht jener seine Unschuld zu beweisen hat, auf den Kopf stellt.

In der Überwachungswelt

Die ars electronica thematisierte den Umstand, dass viele Menschen freiwillig mehr oder minder ungeschützt in die Öffentlichkeit der digitalen Welt treten, in einem ganzen Straßenzug. Auffällig dabei, dass gleich mehrere Projekte den Weg von der zweiten Existenz im Netz wieder zurück in den realen Alltag in Linz 2007 vollzogen. Im Frisiersalon konnte man sich Frisuren, wie sie im zweiten Leben im Netz üblich sind, tatsächlich zulegen. Dr. Whippy maß aufgrund der Konstitution der Stimme den momentanen Frustrationsgrad, je stärker der ausfiel, umso mehr Eiscreme gab es.

Im "Zweiten Leben" im Netz schwebt über den Köpfen wie ein Heiligenschein ständig der jeweilige Name. Diese Namen konnte man sich aus Kunststoff mit dem Laser herausbrennen lassen und mithilfe eines Haarreifens durch Linz tragen. Ein Besucher schien den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben: sein Name lautete "Defekt".

Neben diesen unmittelbaren Bezugnahmen auf das Generalthema gaben viele Beiträge Mittel zur Hand, den Zustand der Welt und des Menschen näher zu durchleuchten. Andrew Gracie und Brian Lee Yung Rowe fassten in ihrer Installation biologische, elektronische und digitale Prozesse zu einer Interaktionsschleife zwischen Blaualgen, Algenfarnen und Reisschösslingen zusammen und kontrastierten sie mit computergenerierten Kunstchemie-Molekülen.

Elektronisches Gedenken

Julien Maire gedachte des wichtigsten Kämpfers gegen die Taliban, Ahmad Schah Massoud, der von Selbstmordattentätern, die sich - als Journalisten verkleidet - mit ihm in die Luft sprengten, indem er eine Videokamera zerlegte, deren Lichtsensor jedoch intakt beließ. Die Lichtexplosionen, die damit erzeugt wurden, erinnern nicht nur an den Todesknall beim Attentat auf Massoud, sondern holen auch alle anderen zerfetzten Leiber von den unzähligen Schlachtfeldern dieser Welt in den Ausstellungsraum.

In ihrer Installation Wenn du mir nahe bist visualisierte Sonia Cillari die Interaktion zwischen Körper und Umwelt. Auf einem Sensorboden steht ein Perfomer, der als Antenne fungiert. Nähern sich Besucher dem Performer, so wird die elektromagnetische Aktivität registriert und in große Computergrafiken übertragen. Die Bilder, algorithmische Organismen, verändern sich im Grad der Fluktuation des elektromagnetischen Feldes und werden durch ein Tonsystem unterstützt.

Doppelte Welt

Die Frage nach der tatsächlichen Erscheinungsweise des Menschen stellte Masaki Fujihata in seinem Nichtreflektierenden Spiegel. Er ersetzte dabei den Spiegel durch einen auf den ersten Blick sehr ähnlichen, falschen Spiegel, bestehend aus einem Bildschirm. Die Betrachter, mit einer Polfilterbrille ausgestattet, können darin jedoch nur die gespiegelte Brille sehen, während der gespiegelte Raum mit den Augenbewegungen mitschwingt. Daraus ergibt sich für die Betrachter eine doppelte Welt: einmal der tatsächliche Raum, daneben aber auch der erstaunlich ähnliche im falschen Spiegel, aus dem sie bis auf die Brille entfernt worden sind.

Fujihata verstärkt diesen Eindruck noch durch eine Überwachungskamera und einen Monitor, die ebenfalls im falschen Spiegel zu sehen sind. Die Betrachter können sich nur im gespiegelten Monitor sehen, im Spiegel selbst erleben sie sich nur als Brille. Die uns bekannte Welt der Zentralperspektive, die einen klaren Mittelpunkt kennt - im Spiegelbild eben unser Konterfei - ist endgültig aufgegeben zugunsten einer Topologie, die von mehreren Zentren und mehreren Peripherien ausgeht und in der die Zentralperspektive nur mehr eine Möglichkeit von vielen darstellt. Dann erscheinen wir uns manchmal als Körper und manchmal als Brille. Irgendwie scheinen wir doch als "Defekte" zu funktionieren.

Goodbye Privacy

Ars Electronica 2007

www.aec.at/privacy

Kataloge: Gerfried Stocker, Christine Schöpf (Hgg.), Goodbye Privacy, Ostfildern-Ruit 2007, 447 S, € 28,- dies., Cyber Arts 2007. International Compendium Prix Ars Electronica, Ostfildern-Ruit 2007, € 48,50 (inklusive DVD und CD)

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