Goldschmidt: Nie endender Augenblick
Am 2. Mai wird er 92 Jahre alt. Der Übersetzer und Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt überlebte den Nationalsozialismus als Kind im französischen Exil. Eine Würdigung.
Am 2. Mai wird er 92 Jahre alt. Der Übersetzer und Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt überlebte den Nationalsozialismus als Kind im französischen Exil. Eine Würdigung.
„Das Exil teilt das Leben in zwei von nun an unvereinbare Hälften: das Vorher und das Nachher; eine sehr banale Feststellung, kann man erwidern, die aber das Wesen des Exilierten als Doppelboden fundiert, untergräbt und zugleich aufspaltet.“
Der Schriftsteller und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt, am 2. Mai 1928 in Reinbek bei Hamburg als Jürgen Arthur Goldschmidt geboren, blickt in seinem schmalen Band „Vom Nachexil“ zurück auf die so einschneidende und sein Leben zerschneidende Erfahrung des Exils. Der Sohn einer bereits im 19. Jahrhundert zum Protestantismus übergetretenen jüdischen Familie in Hamburg wurde getauft und christlich erzogen und lebte mit seiner Familie „wie im deutschen Bilderbuch, sozusagen mit Ludwig Richter, Hans Thoma oder den Brüdern Grimm zusammen“.
Erinnerung bewahrt
Dieses Leben geriet mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus in große Gefahr, die auch die Kinder spürten: „Drohung war überall. Es stand immer jemand in Sichtweite und konnte einen festnehmen.“ 1938 entschlossen sich die Eltern, den Zehnjährigen und seinen Bruder nach Florenz ins Exil zu schicken, zu Paul und Ottilie Binswanger. Ein Einschnitt ohnegleichen für das Kind.
Die Erinnerung hat Goldschmidt bewahrt in Form eines genauen Gedächtnisses, nicht nur an den „Verrat“ der Eltern, sondern auch an das Spielzeug, das er vor der Abreise noch geschenkt bekam, an die vertrauten Orte, an letzte ganz genaue Blicke, um möglichst scharfe Bilder zu gewinnen, auf die er dann noch Jahrzehnte später zugreifen kann und die er in diesem Buch noch einmal festhält.
Der Exilierte weiß, dass man ihm früher oder später einmal vorwerfen könnte, er gehöre nicht dazu.
Lesbar, sichtbar, spürbar wird in diesen Zeilen, was Goldschmidt auch mehrfach explizit benennt: „Das Exil läßt einen nie los, es sitzt einem in der Brust.“ Und: „Das Exil, Jahrzehnte später, ist der nie endende Augenblick des Abschieds, auf den man sich lange vorbereiten muß, um nicht vom Heimweh zerrissen zu werden. So bleibt der Abschiedstag an einem haften bis zum letzten Tag, er steigt in einem ganz plötzlich und unerwartet auf. Jeder Exilierte, jeder Emigrant trägt einen solchen Tag in sich.“
Nachdem im November 1938 auch Mussolini die antisemitischen Maßnahmen der Nazis übernommen hatte, beschloss das Ehepaar Binswanger nach Neuseeland zu fliehen. Die Goldschmidt-Eltern in Hamburg, die immer noch hofften, ihre Kinder bald wiederzusehen, ließen ihre beiden Söhne hingegen mit dem Zug nach Savoyen zu einer Verwandten fahren.
„Die Angst zweier kleiner elf- und fünfzehnjähriger Jungen, nicht über die rettende Grenze gelassen zu werden, können sich vielleicht nur diejenigen vorstellen, die ähnliches erlebt haben.“ Diese Angst scheint dem Schreibenden in seiner Gegenwart noch so nahe wie damals an jenem Tag. Ebenso die Erfahrungen von Gewalt, die die folgenden Jahre im Internat prägten und die Goldschmidt auch literarisch bearbeitet hat. Bauern versteckten ihn schließlich vor den deutschen Besatzern.
„Vom Nachexil“ kreist um den unermesslichen Schmerz und die Erinnerung und lässt 80 Jahre danach noch das Heimweh spüren, das es doch galt, immer wieder von sich abzustoßen, denn: „Der Exilierte weiß, dass man ihm früher oder später einmal vorwerfen könnte, er gehöre nicht dazu.“ Ein wichtiges, ein bedrängendes und beklemmendes Zeugnis in Zeiten, in denen europäische Staaten sich nicht einig werden können, flüchtende unbegleitete Minderjährige aufzunehmen und für sie zu sorgen.
Vom Nachexil
Von Georges-Arthur Goldschmidt
Wallstein 2020
88 S., geb., € 18,50