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Kürzlich musste ich mit dem Zug von Salzburg nach Wien und betrat, einer schlechten Gewohnheit folgend, gleich den Speisewagen. Bis Wels konnte ich in dem mitgenommenen Buch lesen, dann stiegen zwei Männer um die vierzig zu und nahmen am Nebentisch Platz. Der eine hatte auf Stirn und Nase grindig verschorfende Wunden, die von einem Sturz, vielleicht aber auch von einer Schlägerei herrühren mochten; der andere befand sich bereits am Vormittag in einem Rausch, aus dem er womöglich schon seit ein paar Jahren nicht mehr herauszufinden wusste. Die Geschäftsleute und all die anderen distinguierten Reisenden wie ich waren durch das Erscheinen von zwei Sandlern gröblich irritiert, was sich auch darin äußerte, dass jeder von uns versuchte, mit den beiden nur ja nicht in Blickkontakt zu treten.

Die zwei waren aber keineswegs an uns, sondern an dem interessiert, worüber sie offenbar schon die längste Zeit gesprochen hatten. Während ich feig wie stur in mein Buch starrte, hörte ich, wie der eine, dem die jüngsten Verletzungen seines Lebens abstoßend ins Gesicht gezeichnet waren, dem anderen ins Gewissen sprach. Gott, sagte er, ist Dir nicht böse, dass Du Dein Leben so verpfuscht hast; er ist nur traurig, dass Du nicht bemerkst, wie sehr er Dich trotzdem liebt. "Und warum", lallte der andere, "geht es mir dann so schlecht, wo er mich doch liebt?" Die Antwort war eigen und hätte mich empört, wenn sie von einem Pfarrer oder einem unserer christlichen Sozialpolitiker gekommen wäre: "Vielleicht muss es Dir schlecht gehen, damit er einen anderen retten kann?" Nein, wollte ich, der ich weder Neigung noch Übung habe, über Gott zu sprechen, dazwischenrufen, aber mein Mut reichte nur aus, kurz zum Nebentisch zu blicken. Und schon erhob sich der Zweifler der beiden, taumelte zu mir herüber, bat mich um Feuer und dankte, als ich es ihm gegeben hatte, mit einer ironischen Verbeugung und den Worten: "Merci, und gute Reise, Monsieur."

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