Was ist heilig? Was ist Tabu?
Der Satz von Helmut Schüller im letzen "Zeitgespräch": "Abwesenheit von Liebe macht jeden - auch noch so ehrfürchtigen - Gottesdienst zur Blasphemie" erinnert mich an die Aussage der muslimischen Mystikerin Rabi'a Al-adawiyya: "Ich will Wasser in die Hölle gießen und Feuer ans Paradies legen, damit diese beiden verschwinden und niemand mehr Gott aus Furcht vor der Hölle oder in Hoffnung aufs Paradies anbetet. Sondern nur noch um seiner Liebe willen!" Die Anbetung Gottes soll also Ausdruck der Liebe zu Gott sein.
Dies führt uns auch zu der Frage, warum praktizierende Gläubige manchmal denken, sie seien besser als andere Menschen. Dies geschieht, wenn Religion ohne Liebe zu Gott praktiziert wird, wenn also davon ausgegangen wird, dass Gott uns benötigt, auf unser Gebet, unser Fasten usw. angewiesen ist, wenn der Mensch die Einstellung hat: "Wenn ich diese Gottesdienste leiste, stelle ich Anspruch auf eine Gegenleistung von Gott; Gott steht in meiner Schuld." Diese vertraglich verstandene Religiosität hat nichts mehr mit der Ehrung Gottes und der Liebe zu ihm zu tun. Gott zu heiligen und ihn zu lieben impliziert, seine Mitmenschen zu lieben und ihnen das Gute zu wünschen, das man auch sich selbst wünscht. Wer anderen Menschen die Liebe Gottes nicht gönnt, liebt im Grund nur sich selbst, und nicht Gott.
Nun könnte der Einwand kommen: "Wie soll ich den Dieb oder den Mörder lieben? Warum soll Gott sie lieben?" Ganz einfach, indem man nicht den Menschen hasst, sondern die üble Tat. Die Liebe zu seinen Mitmenschen als Ausdruck der Gottesliebe kann sich nur unter der Bedingung entfalten, dass man Gott und dem Menschen gegenüber demütig ist.
Wenn Liebe heilig ist, dann ist ihr Gegensatz nicht der Hass, sondern vielmehr die Überheblichkeit. Überheblichkeit ist tabu, weil sie uns hindert, unseren Mitmenschen auf Augenhöhe zu begegnen.
* Der Autor ist Islamwissenschafter
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