Grauer Kleinbürgermief mit hellen Sprenkeln

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Der neue Roman von Franz-Olivier Giesbert: Der "Grässliche" ist eigentlich recht liebenswert.

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Der neue Roman von Franz-Olivier Giesbert: Der "Grässliche" ist eigentlich recht liebenswert.

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Journalisten sollen sich angeblich nicht darauf beschränken, zu berichten, sondern auch erfinden. Bei Franz-Olivier Giesbert, einem ehemaligen Chefredakteur der Pariser Tageszeitung "Le Figaro", stimmt es jedenfalls. Aber möglicherweise würden die armen Wesen, die er erfunden hat, jene beneiden, über die er berichtete. Welches Glück in diesem Fall, daß sie kein Bewusstsein haben.

Von Giesberts Roman "Die Suhle" (furche 4/1998) wurden allein in Frankreich in kurzer Zeit 200.000 Exemplare verkauft. Ein gewaltiger Erfolg. Nun erschien "Der Grässliche". Obwohl man Aristide den Grässlichen nennt, geht Giesbert doch sehr viel gnädiger mit ihm um als mit der Hauptfigur der "Suhle", mit der wohl wirklich niemand tauschen mochte. Der Grässliche kriegt am Ende immerhin seine Nathalie.

Giesberts Markenzeichen ist eine sehr eigenwillige Mischung von brillantem Stil mit einer Dosis Trivialität. Dazu kommt aber noch ein ausgeprägter Sinn für absurde, hirnrissige Situationen und ein scharfer Blick für die Außenseiter der Gesellschaft. In der "Suhle" war es ein Landarbeiter, den man Jesus rief, und dass dazu noch eine zweite Hauptfigur Epiphanie hieß, war doch ein etwas allzu starker symbolischer Tobak. Auch diesmal haben wir es wieder mit einem Ich-Erzähler zu tun. Er heißt aber wie gesagt Aristide und ist, abgesehen von ein paar lästigen Kleinigkeiten, ein Mensch wie du und ich.

Leider hat ihm der Doktor Baudroche bei der Zangengeburt einen Fuß verdreht, den Kopf leicht deformiert und ein Auge zermanscht. Dass der kleine Franzose außerdem um so schwärzer aussieht, je älter er wird, ist eine kleine Draufgabe des Schicksals. Die Schwärze kommt vom Vater, einem afrikanischen Landarbeiter, dessen Namen er der Mutter herauslockt und den er am Ende sogar in Avignon findet. Papa Mohammed ist zwar freundlich, aber doch nicht ganz nach dem Geschmack des wiedergefundenen Sohnes, worauf dieser sich unter Mitnahme einer Ziege, die er sehr liebt, die ihm aber abhanden kommt, wieder auf die Socken macht.

Das Buch ist mit einem trockenen Witz geschrieben und in den Topf mit der Trivialität hat Franz-Olivier Giesbert diesmal mit wohltuender Zurückhaltung hineingegriffen: "Trotz seiner dicken, sinnlichen Lippen sah Papa nicht wie ein Sadist oder ein Besessener aus. Dazu sah er viel zu rechtschaffen aus. Zwischen der Version meiner Mutter und der seinen neigte ich also eher dazu, mich zugunsten meines Vaters zu entscheiden. Vor allem, weil ich keinen Gefallen, wirklich überhaupt keinen Gefallen daran fand, das Ergebnis einer Vergewaltigung zu sein - das ist doch traumatisierend. Aber ich schloss nicht aus, dass die Wahrheit dazwischen lag, wie es so oft im Leben der Fall ist. Das Kreuz mit der Wahrheit ist in der Tat, dass es immer mehrere gleichzeitig von ihr gibt und dass sie niemals gleich sind. Wenn es nur eine einzige gäbe, würde sich die herumsprechen, und man hätte seine Ruhe. Man wäre zum Beispiel nicht gezwungen, so viele Bücher zu schreiben. Ein einziges würde genügen. Ich wollte lieber nicht wissen, unter welchen Umständen ich gezeugt worden war. Da ich nicht darauf einging, wechselte mein Vater wie selbstverständlich das Thema."

Giesbert ist ein Meister der mit Aufhellungen gesprenkelten dunklen Grautöne. Ein großartiger Schilderer französischen Kleinbürgermiefs, aber ohne den bei einem Teil der deutschen Erzähler so beliebten denunzierenden Unterton. Sie sind nicht gut, sie sind nicht böse, sie sind, wie sie sind. Opa und Oma in Avignon sind so arg, dass Aristide auf die vom Papa angebotene Stadtführung verzichtet. Er könnte ja auf der Straße Opa und Oma treffen. Und die würden ihn womöglich sofort verpfeifen. Kein Wort davon, warum die Polizei hinter Aristide her ist. Wir wollen ja dem Leser die Spannung nicht rauben. "Der Grässliche", dieser Blick auf die Welt aus den Augen eines Außenseiters, ist wert, gelesen zu werden. Auch wenn der Roman etwas eindimensional ist, ebenso spannend zu lesen, doch glätter als "Die Suhle", weniger provozierend, dafür auch weniger verrückt und an keiner Stelle ärgerlich.

Aristide ist ein abgeschobenes Kind. Obwohl er nichts so liebt wie die Arbeit eines Hausmädchens und hier, weil man dabei an alles andere denken kann, das Geschirrwaschen, obwohl er aber auch gerne wäscht und bügelt und saugt, will ihn Mama nicht behalten. Vielleicht wegen der Behinderung ihres Liebeslebens. Genaues erfährt man nicht. Jedenfalls wird er, weil dem Halbwüchsigen das schwarze Hausmädchen etwas zu gut gefallen hat (in allen Ehren, aber es gab da eine missverständliche Situation), von den Großeltern hinausgeworfen. Bei der Familie Foucard gefällt es ihm besser. Gescheiterte kleine Geschäftsleute und frustrierte französische Kleinbürger wie sie im Soziologiebuch stehen. Aber mit einer ebenso halbwüchsigen und stark auf Aristide wirkenden Tochter. Er ist ja überhaupt ununterbrochen verliebt. Er liebt auch seine ältliche Lehrerin, Madame Bergson, die ihren verstorbenen Mann in einer Limoges-Vase auf der Anrichte aufbewahrt und philosophische Gespräche mit Aristide führt. Und die Hand auf sein Knie legt. Er gedenkt ihr seine Liebe zu erklären, so in drei, vier Jahren. Aber er wird auch Nathalie um ihre Hand bitten. Nichts dabei. Man muss nur ein wenig lügen können, und das ist für Aristide nun wirklich kein Problem.

Auch in diesem Roman ist die Liebe zu den Tieren und das Mitleid mit dem vom Menschen misshandelten Tier ein immer wieder auftauchendes Motiv. Aber diesmal ist die Welt der Tiere keine leicht grausig getönte Parallel- und Gegenwelt, in der es genau so arg zugeht wie unter den Menschen, sondern eher Projektionsfläche menschlicher Einsamkeit.

Der Grässliche Roman von Franz-Olivier Giesbertm Übersetzung: Sabine Exner, Picus Verlag, Wien 2001, 244 Seiten, geb., öS 307,-/e 22,28

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