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Graz 2003 überwindet mit Regina Strasseggers Projekt über Inge Morath die Grenze nach Süden.

Der Schatten des Ballons über der verschneiten Landschaft: mit diesem Bild endet der Film. Der Ballon trägt Inge Morath über die Grenze ihrer Kindheit, ihres Lebens. Am 30. Jänner wird Regina Strasseggers bewegende Dokumentation "Grenz.Räume" über Inge Moraths letzte Reise im Weißen Saal der Grazer Burg präsentiert, unmittelbar davor die gleichnamige Ausstellung von Graz-2003-Intendant Wolfgang Lorenz eröffnet. Die Kulturhauptstadt Graz 2003 liefert mit diesem Projekt eine unverwechselbare Botschaft.

Dass Inge Morath, weltberühmte Fotografin und Frau des Dramatikers Arthur Miller, eine Steirerin war, hat die weitgereiste Weltbürgerin mit ihrer zweiten und dritten Heimat Paris und New York leicht vergessen gemacht. Tatsächlich kam sie in Graz auf die Welt, wuchs zwar in Deutschland auf und erlebte den Bombenkrieg in Berlin, aber sie verbrachte die Sommerwochen ihrer Kindheit in der südlichen Steiermark an der Grenze zu Slowenien, der alten Untersteiermark. Das scheint nicht viel, um die große Frau für die grüne Mark zu reklamieren. Aber Kindheitserinnerungen sind heilig, sagt Arthur Miller, deshalb blieben sie in ihr so stark; und deshalb kehrte sie schließlich dorthin zurück, woher sie gekommen war. Dass es ihre letzte Reise sein würde, wusste niemand.

Film, Buch und Ausstellung

Der mehrfach prämierten Filmemacherin Regina Strassegger gelang es, um Inge Moraths Rückkehr in die steirisch-slowenische Grenzregion ein dreifaches Projekt aufzuziehen - unter dem gemeinsamen Titel "Grenz.Räume". Der schmerzhaft zwischen die Wortteile geschobene Punkt ist ein winziges Symbol jener Spaltung, die nicht nur die Landschaft, die auch ihre Bewohner teilt. "Grenz. Räume" ist zuerst ein Bildband, in dem Strassegger die Begegnung Moraths mit der Szenerie ihrer Herkunft sensibel nachzeichnet; "Grenz.Räume" ist der 90-Minuten Film, in dem die Schwarz-Weißbilder des Buches farbig und lebendig werden; "Grenz.Räume" heißt schließlich die Ausstellung, die von Graz aus ihren Weg nach Slowenien, New York, Wien und Budapest antreten wird.

Am 10. September 1919 legte der Friede von St. Germain die Abtrennung der Untersteiermark vom verbliebenen Restösterreich fest. Der k.u.k. Major Rudolf Maister war im Oktober 1918 Befehlshaber des 26. Landsturmbezirks und für die Erhaltung der Ordnung im Raum Maribor zuständig. Als der Krieg Anfang November 1918 zu Ende ging, konnte Maister die militärische Gewalt über die nördliche Untersteiermark gewinnen. Er wurde am 1. November 1918 vom slowenischen Nationalrat zum General ernannt. Dass er sein Land dem neuen Königreich Jugoslawien auslieferte, machte ihn zum slowenischen Nationalhelden. Als Maister 1934 starb, war eine Mehrheit der deutschsprachigen Bevölkerung bereits aus Slowenien vertrieben und eine brutale Grenze zerschnitt eine Region, die über Jahrhunderte zusammengehört hatte.

Nicht nur der verlorene Krieg, auch der in den letzten Jahren der Monarchie wuchernde Deutschnationalismus trägt seine Schuld an der Zerstückelung der Steiermark. Privilegierte Positionen hatten durchwegs Deutschsprachige inne. Die Verachtung der Slawen als Untermenschen hatte schon begonnen und schürte zwei Jahrzehnte später noch einmal den Deutschenhass, als Hitler im März 1941 Jugoslawien überfiel. Verletzungen und Ressentiments eines Jahrhunderts heilen und verblassen nur langsam und infizieren die Beziehungen zwischen Nachbarn, Freunden und Familienmitgliedern.

Paradies gegen Geschichte

Schauplatz der verlorenen Kindheit Inge Moraths war das "Haus an der Grenze", das die Eltern ihrer Freundin Renate in den zwanziger Jahren gekauft hatten. Dieses Haus ist Zeuge einer solchen politischen Infektion. Die aus der Untersteiermark vertriebenen Familien sahen im Nationalsozialismus ihr Heil. Nach dem Anschluss verzeichnete das Gästebuch des Hauses Namen wie Göbbels und Himmler. Die nächste Generation, Inge und Renate, hatten jedoch kein Interesse am Familienfrieden unter solchen Bedingungen. Renate, Tochter des steirischen SS-Gauleiters, heiratete Imo Moszkowicz, der seine Familie in Auschwitz verloren und selbst überlebt hatte; Inge wurde 1962 die Frau des prominenten jüdischen Literaten Miller.

In der Erinnerung Moraths freilich gerät die politische Katastrophe des Jahrhunderts zur Episode. Verdrängung mag dabei im Spiel sein; aber mehr noch überzeugt die tröstliche Gewissheit, dass alltägliches Leben und Landschaft unbegreiflich beständig sind und den Wechselfällen der Geschichte trotzen. Deshalb war es Inge Morath möglich zurückzukehren. "Wenn mich jemand fragt: Wo bist du her, wo fühlst du dich zu Hause?", sagt sie, "dann ist das hier in den Weingärten, dem Paradies meiner Kindheit." Inge Morath hatte gelernt, Distanz zu wahren. Sie fotografierte in allen Weltteilen Menschen jeder Provenienz, sie bewegte sich unbefangen in allen Ländern. Sie strahlte Noblesse aus, und wie sie lachen konnte, das nennt ihr Mann Arthur das Geschenk ihres Lebens.

Was da als Weisheit eines Lebens in mehrfacher Emigration gewonnen worden war, wurde auf Moraths letzter Reise noch einmal auf eine harte Probe gestellt. Strasseggers Film vermittelt die starken Emotionen, die die Begegnung mit der eigenen Herkunft und einem Stück tragischer europäischer Geschichte in der 78-jährigen Fotografin auslösen: Sie zeigt Bewegtheit und Abschottung, das leichtfüßige Durchqueren einer dörflichen Faschingsszenerie ebenso wie den stummen Blick über die grenzenlose Hügellandschaft an der Grenze.

Damit nicht genug. Morath stand zeitlebens hinter der Kamera; jetzt wurde sie selbst zum Objekt der Aufnahmen. Immer war sie es gewesen, die Nähe und Distanz, Zeitpunkt und Ausschnitt bestimmt hatte; jetzt bestimmten andere über sie. Dieser Rollenwechsel, berichtet Regina Strassegger, war bis zuletzt eine Gratwanderung zwischen cooler Professionalität und spürbarem Widerstand.

Die erlernte Distanz ablegen

"Inge liebte diese Gegend, die sie bewegend fand und in ihre Arme nahm", erinnert sich Arthur Miller im Vorwort des Buches. Strasseggers Film zeigt in starken Bildern die Ambivalenz dieser Umarmung: das Angebot von Geborgenheit und die Herausforderung, die erlernte Distanz abzulegen. In schnellem Wechsel sehen wir eine springlebendige Frau, der ihr Alter nicht anzusehen ist, und eine schweigende, die ganz ins Schauen vertieft der Welt gegenübersteht. Unverkennbar ist zugleich, dass hier im Schicksal einer prominenten Person zusammengefasst ist, was das abgelaufene Jahrhundert brachte: Hass und Heimatlosigkeit ebenso wie die Sehnsucht nach Heimkehr und Frieden.

Strasseggers Buch zu lesen und ihren Film auf sich wirken zu lassen, setzt den Beschauer einem kalkulierten Wechselbad der Gefühle aus. Die Ausstellung bildet dazu einen Kontrast. Kurt Kaindl, der im Salzburger Otto-Müller-Verlag mehrere Morath-Bildbände herausgegeben hat, und Brigitte Blüml kuratieren die Fotoschau bewusst unterkühlt. Die Bilder wirken von selbst und sind unkommentiert, nur mit der Angabe von Ort und Jahr versehen. Es ist schon genug, dass das Grazer Künstlerhaus mit seiner runden Apsis Assoziationen an einen Sakralraum weckt. Hier erzählen die Bilder keine Reisegeschichte, sondern sind geografisch um visuelle Schwerpunkte geordnet. Nur einzelne Stelen, Grenzpfählen nachempfunden, geben Buchtexte wieder und zeigen Morath bei der Arbeit. Ansonsten geht es in der Ausstellung durchwegs um Arbeiten von Inge Morath, nicht über sie.

Der Schatten des Ballons

Die Ausstellung wird in diesem Jahr durch Europa und in die USA wandern, wie es dem Werk einer Weltbürgerin geziemt. Das Buch, das deutsch-englisch im Handel ist, erscheint zusätzlich in einer deutsch-slowenischen Ausgabe, die an Schulen und Bibliotheken beiderseits der österreichischslowenischen Grenze verteilt wird. Die bittere Grenze ist de facto schon gefallen, in einem Jahr ist Slowenien bei der EU, und auch das Schengen-Abkommen wird nicht lange auf sich warten lassen. Wo noch vor eineinhalb Jahrzehnten auf Flüchtlinge geschossen wurde, durchquert man schon heute unbehelligt die Weingärten mit ihrem mediterranem Flair. Im Mai wäre Inge Morath 80 geworden. Sie hat es nicht erwartet, im Mittelpunkt ihres großen Projekts zu stehen, gerade vor einem Jahr ist sie in New York gestorben. "Wenn es zappenduster geworden ist, dann hör ich auf und geh ich", sagte sie. Im Ballon überwindet sie die letzte Grenze, während sein Schatten über die Landschaft streicht und die Grenzen der Geschichte wegwischt.

INGE MORATH - GRENZ.RÄUME

Von Regina Strassegger. Mit einem Vorwort von Arthur Miller und Fotografien von Inge Morath, Stojan Kerbler, Branko Lenart. Deutsch und Englisch

Prestel-Verlag München u. a. 2002

323 Seiten mit 321 Duoton-Abbildungen, Geb. e 49,95

Der Film "GRENZ.RÄUME. Inge Morath - letzte Reise" ist am Sonntag, 2. Februar um 21.15 Uhr in 3sat und um 23.15 Uhr in ORF 2 zu sehen.

Die Ausstellung GRENZ.RÄUME läuft im Grazer Künstlerhaus von 31. Jänner bis 2. März 2003.

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