Grete Weil schrieb gegen das Vergessen an

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Der neue, posthum erschienene Band enthält eine wichtige, bisher unveröffentlichte Erzählung aus der Vorkriegszeit.

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Der neue, posthum erschienene Band enthält eine wichtige, bisher unveröffentlichte Erzählung aus der Vorkriegszeit.

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Als Grete Weil im Mai mit 93 Jahren in der Nähe von München starb, verstummte eine Zeitzeugin, eine mahnende Stimme, die ein Leben lang gegen das Vergessen angeschrieben hatte. Der Tod ihres in Mauthausen ermordeten Mannes (Edgar Weil war Dramaturg der Münchner Kammerspiele), ihr Leben in einem Versteck in Holland bestimmten nach 1945 ihr gesamtes schriftstellerisches Werk.

Die Bruchlinie ihres Lebens wird im neuen, posthum erschienen Erzählband besonders deutlich, da darin zum ersten Mal eine Erzählung veröffentlicht wird, die vor dem Krieg entstand. Die junge Grete Weil erweist sich als scharfe, psychologisch versierte Beobachterin eines jungen, heftig verliebten Paares, das bei einem Kletterausflug in den Dolomiten durch einen jungen "Faun", einen hübschen jungen Burschen, völlig verstört wird. Akribisch trägt sie Schicht für Schicht des Lacks ab, der sich bereits über die noch junge, aber doch schon nach außen "geschönte" Beziehung gelegt hat. Es ist eine große Liebe, die das intellektuelle Paar verbindet, und doch ist sie nicht gefeit vor Verstörung. Während die junge Frau hinter ihren scheinbar mütterlichen Gefühlen Phantasien entdeckt, die der Heranwachsende in ihr weckt, wird ihr Freund von jugendlichen homoerotischen Neigungen eingeholt. Dies alles geschieht während einer gefährlichen Klettertour, bei der jeder den anderen sichern muß, vor der bedrohlichen Kulisse der Dolomiten, am Seil zwischen Leben und Tod hängend.

Nach dem Krieg hat Grete Weil ihre Beobachtungsgabe und Erzählkunst dazu verwendet "mit aller Liebe, allem Vermögen, in zäher Verbissenheit" gegen das Vergessen anzuschreiben, da sie den "Morbus Auschwitz", die unheilbare Krankheit der Überlebenden, in sich trägt. In New York will sie nach Harlem, um die Ausgrenzung der Schwarzen hautnah zu erleben. Ihr Entsetzen über das ghettoähnliche Leben dort durchzieht die Erfahrung, daß sie als Weiße und Deutsche ihrerseits Verachtung erfährt, und als Jüdin und Nichtchristin ebenso. Überall Intoleranz, überall Verachtung für das Andere. Die Suche nach Verstehen, nach den Wurzeln des Hasses, bringt keine Klarheit. Auch in Mexiko, beim Besuch indianischer Opferstätten, wird sie von der Vergangenheit eingeholt. Inmitten der Touristen, die oberflächlich über die weit zurückliegenden Menschenopfer staunen, erwachen Erinnerungen an die Konzentrationslager, die heute ebenso bestaunt werden. In einem Fremdenführer glaubt sie einen ehemaligen KZ-Wachmann zu erkennen und sucht verzweifelt nach Indizien, die dies untermauern.

Grete Weil ist keine sanfte, doch eine überaus originelle und faszinierende Erzählerin. Kleine Brüche, Details, scheinbar willkürlich positioniert, lassen in ihrer Gesamtheit die Komposition erkennen. Auch die nervöse Überreiztheit der Vorkriegszeit, aber auch deren Zuversicht und Vertrauen, die nach dem Krieg in eine schwelende Ruhelosigkeit übergehen, finden in ihren Erzählungen Ausdruck. Nie geschwätzig, sondern im Gegenteil von klarer Kargheit, beunruhigen ihre Bilder einer von Haß und Mißtrauen zerrissenen Welt, in der jeder versucht, ein kleines Stückchen Normalität zu ergattern und zu verteidigen, notfalls mit Gewalt, und möglichst erinnerungslos.

Mit ihren Erzählungen arbeitet Grete Weil kunstvoll gegen die "feierliche Unschärfe", die sich heute, nach nur 50 Jahren, bereits über Nationalsozialismus und Krieg legt. Und sie entlarvt die Fassaden der Wohlstandsgesellschaft als brüchig und bedroht. Damit entläßt sie ihre Leser nicht in melancholische Betroffenheit, sondern verstört, provoziert, fordert Widerspruch heraus und schärft den Blick für Menschenverachtung und aufkeimende Gewalt.

Erlebnis einer Reise. Drei Begegnungen von Grete Weil. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 1999. 156 S., geb., öS 254,- /e 18,45

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