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Hellenozentrisch multikulturell: Land und Literatur zwischen Balkan und Westen.

Jeder fremde Besucher, der zum ersten Mal nach Athen kommt, wird fast aus jedem Winkel der Stadt die zwei Hügel sehen, die über die Stadt wachen: den Hügel der Akropolis mit dem herausragenden Parthenon und den Lycabettus-Hügel mit dem Sankt-Georg-Kirchlein. Diese beiden Hügel sind nicht nur beliebte Sehenswürdigkeiten für Touristen, sondern auch zwei Meilensteine der griechischen Geschichte. Der Akropolis-Hügel glorifiziert die Antike. Der Lycabbettus-Hügel dagegen symbolisiert das neue Griechenland des Balkan und der Orthodoxie.

In der knapp hundertachtzigjährigen Geschichte seit der Gründung des (neu)griechischen Königreichs konnten sich die Griechen nicht entscheiden, ob sie zum Balkan oder zu Europa gehören. Wenn die Großmächte Europas ihnen die Kehle zuschnürten, dann fühlten sie sich mit den anderen Balkanländern solidarisch. Sobald aber das antike Griechenland als Wiege der europäischen Kultur gepriesen wurde, stolzierten sie gerne als die Urväter Europas.

Ausnahme auf dem Balkan

Dabei war Griechenland, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, eine Ausnahme auf dem Balkan. Es war das einzige Balkanland, das zum westlichen Bündnis gehörte. Seit 1981 war es zudem noch das einzige Balkanland, das den Beitritt in die EU schaffte. Nach dem Fall der sozialistischen Regime wurde es für die armen Balkaner das Land der Arbeit und der Hoffnung. Heute hat Griechenland die höchste Migrantenrate in der ganzen EU. Von den 10 Millionen Einwohnern sind 1,2 Millionen Migranten.

Diese Ausnahmen waren jedoch für das Land eher eine Zerreißprobe. Denn Antike und Orthodoxie waren nicht die einzige Front. Die andere ging genauso in Richtung West-Ost, war aber eine politische: Die Linke propagierte seit Anfang der fünfziger Jahre, also nach dem Bürgerkrieg und als der Kalte Krieg auf Hochtouren lief, das Paradies der Ostblockstaaten, während sie den Westen als Hort des Kapitalismus und der amerikanischen Hegemonie verteufelte. Die Rechte machte eine Politik, die praktisch von den USA vorgeschrieben wurde. Trotzdem war auch die Rechte traditionell im Osten und in der Orthodoxie verankert. Linke und religiöse Orthodoxe waren nach dem Bürgerkrieg Erzfeinde, sie gingen aber aus getrennten Wegen in die selbe Richtung.

Osten oder Westen war nicht die einzige Kontroverse. Die zweite hatte direkt mit Dichtung und Literatur zu tun. Der Primat der Lyrik in Griechenland blieb jahrzehntelang unumstritten. Man braucht nicht lange nach Argumenten zu suchen: Der einzige weltweit bekannte Romanautor Griechenlands ist Nikos Kazantzakis. Hingegen hat die Dichtung zwei Nobelpreisträger vorzuweisen - Jorgos Seferis und Odysseas Elytis - und zwei weitere weltweit übersetzte Dichter: Konstantinos Kavafis und Jannis Ritsos. Der Erfolg der Lyrik hatte zur Folge, dass die Prosa sich allmählich der Lyrik anpasste. Sie rückte die Fabel an die zweite Stelle, vernachlässigte die Inhalte und gab dem Stil den absoluten Vorrang.

Die Lyrik war zwar der stilistische Wegweiser für die Prosa, ansonsten aber gingen sie getrennte Wege. Für die griechischen Dichter existiert die Ost-West-Spaltung nicht. Die Lyrik schaute immer zum Westen hin und beteiligte sich an allen Strömungen, die seit dem 19. Jahrhundert die europäische Dichtung geprägt haben.

Anders die Prosa. Vom Ende des Bürgerkriegs bis zur Zeit der Militärdiktatur (1967-74) war sie von zwei Maximen beherrscht: Links im Nachklang des Bürgerkriegs und balkanisch als Reaktion auf die westliche Orientierung der Rechten. Dabei gehörte zwar die Rechte, die das Land bis zum Militärcoup vom 21. April 1967 fast ununterbrochen regiert hatte, zum westlichen Bündnis, sie verstand sich aber literarisch dem Balkan näher als Europa.

Gerade der profilierte Nikos Kazantzakis hat den Hellenozentrismus konsequenter gepflegt als jeder andere griechische Autor. Die Thematik seiner Romane hat zwei Konstanten: die "Wunden" am Leib der griechischen Nation und die Glorifizierung eines "griechischen" Freiheitssinns. Der Roman, in dem dieser typisch "hellenische Freiheitssinn" fast an die Folklore grenzt, ist Alexis Sorbas, der den griechischen Romanautoren zum Verhängnis wurde, weil nach dessen eklatantem (Film-) Erfolg jeder ausländische Verleger auf dem griechischen Buchmarkt nur noch nach einem neuen Alexis Sorbas suchte.

Verhängnis "Alexis Sorbas"

Die "hellenozentrische Sicht" in der neugriechischen Literatur setzte sich auch nach dem Zusammenbruch der Militärdiktatur fort. Waren die sieben Jahre der Junta Jahre des stillen Widerstands, so markierte der Übergang in die Demokratie sowohl für die Literatur als auch für den Film und das Theater eine langjährige Auseinandersetzung mit der neueren Geschichte des Landes vom Bürgerkrieg bis zur Militärdiktatur.

Es ist interessant, dass der anfangs erwähnte Vergleich zwischen den Akropolis- und Lycabettus-Hügeln nicht nur die Thematik der neugriechischen Literatur bestimmt hat, sondern auch das Beharren sowohl auf die antike als auch auf die östlich-orthodoxe Tradition. Das hatte auch damit zu tun, dass das neugriechische Königreich für die Auslandsgriechen Bezugspunkt und gesegnetes Land zugleich war. Was heute Israel für die Juden der Diaspora ist, war Griechenland für die Griechen aus aller Welt seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts.

Die Griechen sind eigentlich stolz, ein Emigranten-Land zu sein, das zur Prosperität der USA und Kanadas bis zu Australien und Süd-Afrika einen großen Beitrag geleistet hat. Die Realität sieht jedoch etwas anders aus. Griechenland war mehr ein Immigranten-als ein Emigranten-Land. Nur hat in Griechenland die Immigration, wie es bei uns so üblich ist, umgekehrt angefangen. Die ersten Einwanderer, die nach Griechenland kamen, waren keine armen Teufel, sondern Adlige: Prinz Otto von Bayern und seine Gefolgschaft. Für sie war der Umzug von München nach Athen mit seinen 12.000 Einwohnern der Albtraum der Emigration.

Danach ging es stufenweise bergab. Nach den Bayern kamen die Griechen der Diaspora. Sie waren keine Adligen, aber Kaufleute, die es im Ausland zu Reichtum gebracht hatten. Nach der Russischen Revolution kamen dann die Pontus-Griechen aus dem Schwarzmeer-Gebiet, die sowohl von den Bolschewiki als auch vom Osmanischen Reich vertrieben wurden. Sie waren daheim reich, kamen jedoch als arme Leute nach Griechenland, weil ihr Reichtum entweder konfisziert wurde oder weil sie ihn auf der Flucht zurückgelassen hatten. Einige Jahre später folgte dann der Volksaustausch zwischen Griechenland und der Türkischen Republik, dessen Opfer arme Griechen aus Anatolien und Istanbul waren. Auf den Bürgerkrieg folgte die große innere Migration: die Flucht aus den Dörfern in die Städte. Zuletzt kamen dann die Ärmsten: Ägypter, Sudanesen, Pakistanis, und nach 1989 die Migranten aus Albanien und den anderen Balkanländern des Realsozialismus.

Keiner von diesen Einwanderern wurde von den Einheimischen offen und freundlich aufgenommen, teils aus berechtigten Gründen. Griechenland war zur damaligen Zeit ein armes Balkanland, das kaum fähig war, seine eigene Bevölkerung zu ernähren. Woher sollte es die Mittel nehmen, die den Neuankömmlingen Brot und Arbeit verschafft hätten? Es ist aber auch wahr, dass die griechische Gesellschaft eine in sich verschanzte Gesellschaft war, welche die Auslandsgriechen (mit Ausnahme der reichen Griechen der Diaspora) ausgrenzte. Was heute für die Albaner gilt, galt damals für die griechischen Einwanderer. Für die Auslandsgriechen der ersten und zweiten Generation, die aus freiem Willen oder gezwungen nach Griechenland kamen, war Griechenland nicht das Mutterland, sondern die Fremde.

Migranten in der Literatur

Es wundert manche, dass die Einwanderer und die Beziehungen zwischen Griechen und Migranten für die griechischen Autoren der Gegenwart kein Thema sind. Und doch interessierten sich auch die Autoren des vorigen Jahrhunderts genauso wenig für die Probleme der griechischen Einwanderer aus dem Schwarzen Meer oder aus Kleinasien. Die griechische Literatur hat erstaunlich wenig Werke vorzuweisen, die sich mit den Berührungsängsten zwischen den Einheimischen und den Auslandsgriechen befassen oder die das harte und traurige Schicksal der unerwünschten Einwanderer aufarbeiten.

Erst nach dem Bürgerkrieg haben Autoren der Linken sich mit dem Schicksal der zweiten und dritten Generation von Einwanderern befasst, indem sie sie als das aufkommende Proletariat darstellten, das in den Arbeitervierteln rund um Athen ein elendes Dasein führte.

Griechen betrachten mittlerweile den Balkan ungefähr so wie auch die anderen Europäer: mit einer Distanzierung, die fast an Arroganz grenzt. Der Westen interessiert sich für Migranten kaum. Weder politisch, noch sozial, noch - mit einigen Ausnahmen, die meistens Kriminalromane sind - literarisch. In diesem Sinne könnte man sagen, dass die griechische Literatur endlich in Europa angekommen ist. Manche würden das vielleicht als eine bittere Ankunft betrachten. Es ist trotzdem eine Ankunft.

Vom Autor erschien auf Deutsch zuletzt der Krimi "Der Großaktionär. Ein Fall für Kostas Charitos" (Diogenes Verlag 2007). Er wird daraus in der "Kriminacht" am Freitag, 1. Juni, um 21 Uhr in der Fernwärme Wien (Spittelauer Lände 45, 1090) lesen.

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