Großmütter fliegen nicht

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"Hier sind wir, die Neuen, und wir schreiben anders": Lateinamerikanische Autoren haben genug vom "Magischen Realismus". Ein Gespräch mit dem kolumbianischen Autor Jorge Franco.

Was ist Realität, was Fiktion? Wer Kolumbien nicht kennt, tendiert dazu, die Wirklichkeit für ein Produkt der Fantasie zu halten, sagt Jorge Franco. "Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Als ich meinen Roman 'Rosario Tijeras' in Spanien präsentierte, hob ein Journalist meine große Vorstellungskraft hervor. Schließlich ließ ich die Sicarios (Mörder im Dienste der Drogenkartelle) die Kugeln in Weihwasser kochen, damit sie im Augenblick des Verbrechens ihr Ziel nicht verfehlen. Das war aber keine Erfindung von mir, das ist Teil eines Rituals, das diese Sicarios vollführen. Hier in Kolumbien weiß das jeder, im Ausland aber klingt das wie Fiktion."

Francos Geschichte von der Killerin Rosario, die den Nachnamen Tijeras (Schere) annahm, nachdem sie mit diesem Instrument ihrem Vergewaltiger die Hoden abgeschnitten hatte, gehört nicht nur zu den meist verkauften Romanen Kolumbiens in den letzten Jahrzehnten. Er wurde seit seiner Erstveröffentlichung 1999 in acht Sprachen übersetzt, die deutsche Version erschien 2002 im schweizer Unionsverlag, der bereits die Übertragung eines weiteren Werks von Franco, "Paraíso Travel" über das Los kolumbianischer Immigranten in New York, übernommen hat.

Städte statt Mythen

Den eigenen Erfolg, wie auch den von Landsleuten wie Santiago Gamboa, sieht Franco als Zeichen dafür, dass es der jungen Generation der heute 35- bis 45-Jährigen lateinamerikanischen Schriftsteller allmählich gelingt zu zeigen, dass "es eine neue Literatur gibt, und die so gut wie die vorhergehende ist." Leicht sei das nicht gewesen, gesteht der in Medellín geborene und heute in der Hauptstadt Bogotá lebende Franco ein. "Einmal", schildert er, "erklärte mir ein Verleger: Eines der Probleme, die wir jungen kolumbianischen Schriftsteller damit hätten, in den Ländern der Ersten Welt veröffentlicht zu werden, liege darin, dass die Leser weiterhin Geschichten mit fliegenden Großmüttern und anderen Elementen des Magischen Realismus lesen wollten. Das ist die Vorstellung, die sie von der lateinamerikanischen Literatur haben."

Franco und viele seiner Zeitgenossen wollen keinesfalls die Bedeutung jener Autoren anzweifeln, die mit ihren von magisch-mythischen Welten geprägten Texten in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine als "Boom" bezeichnete Verbreitung lateinamerikanischer Literatur bewirkten. "Wir lesen Gabriel García Márquez und bewundern ihn als großen Schriftsteller; ihm ist es zu verdanken, dass Kolumbien als ein für das literarische Schaffen fruchtbarer Boden anerkannt worden ist." Doch das Land habe sich stark verändert, seit 1967 García Márquez' Meisterwerk "Hundert Jahre Einsamkeit" erschien. Die in den rapide gewachsenen urbanen Räumen groß gewordene Generation bringt nun eine Literatur hervor, die "nicht mehr so exotisch, so tropisch ist und mehr der Literatur ähnelt, die auch andere Metropolen hervorbringen" Das exotische Bild Lateinamerikas empfinden junge Autoren als sehr fremd, als etwas, das längst der Vergangenheit angehört, "es ist fast wie ein touristisches Bild", meint Franco und ergänzt: "Im übrigen ist die kolumbianische Realität so absurd und übertrieben, dass es gar nicht nötig ist, sie zu bearbeiten, damit sie magisch erscheint."

Diese Worte erinnern an den Prolog zu jenem Werk, mit dem sich Angehörige der neuen Generation erstmals gemeinsam vorstellten, der 1996 von den Chilenen Alberto Fuguet und Sergio Gómez herausgegebenen Anthologie "McOndo". Der Titel verstand sich zum einen als Kritik an der Rezeption lateinamerikanischer Literatur in Europa und den USA, zum anderen als Ablehnung des "Macondismo", des nach dem Dorf Macondo in "Hundert Jahre Einsamkeit" benannten epigonenhaften Festhalten am Magischen. Unmittelbarer Anlass für das Werk war, wie die Herausgeber im Prolog betonten, die Zurückweisung zweier lateinamerikanischer Autoren in den USA mit folgendem Argument: Ihren Texten "ermangle es an magischem Realismus." Diese "hätten ebenso gut in irgendeinem Land der Ersten Welt geschrieben werden können".

Nicht auf Exotik reduzieren

"Wir verleugnen nicht das Exotische und Bunte in der Kultur und den Gewohnheiten unserer Länder, aber es ist unmöglich, die reduktionistischen Essentialismen hinzunehmen", erklärten Fuguet und Gómez im Prolog. "Der Name (registrierte Marke?) McOndo ist klarerweise ein Witz, eine Satire, ein Wortspiel. Unser McOndo ist so lateinamerikanisch und magisch (exotisch) wie das reale Macondo (das natürlich nicht real, sondern virtuell ist). Unser Land McOndo ist größer, überbevölkert und voll Umweltverschmutzung, mit Autobahnen, U-Bahnen, Kabelfernsehen und Slums. In McOndo gibt es McDonald's, Mac-Computer und Kondominiums und selbstverständlich mit gewaschenem Geld gebaute Fünf-Stern-Hotels und riesige Einkaufszentren. Lateinamerika erscheint uns so magisch-realistisch (surrealistisch, verrückt, widersprüchlich, wahnwitzig) wie jenes imaginäre Land, in dem die Menschen levitieren, die Zukunft vorhersagen und die Männer ewig leben."

Das Buch war - und ist bis heute - heftigster Kritiken seitens jener Literaturkenner und auch Leser ausgesetzt, die glauben, die Granden des Booms vor einem derartigen "Verrat" schützen zu müssen. Franco selbst hält "McOndo" für ein sehr wichtiges Werk, weil es gezeigt habe, dass es neben den einzigen bis dahin international anerkannten auch andere, neue lateinamerikanische Autoren gebe. McOndo "war wie eine große Verkündigung: hier sind wir, die Neuen, und wir schreiben anders."

Achtung von Marquez

Wahnwitz, Gewalt und Korruption in den kolumbianischen Metropolen sind ein zentrales Thema in den Büchern von Francos Landsleuten Juan Carlos Botero, Mario Mendoza und Hector Abad, aber auch in Santiago Gamboas bereits auf Deutsch vorliegendem Roman "Verlieren ist eine Sache der Methode". Daneben gibt es aber auch eine Reihe von Werken mit, wie Franco es formuliert, "einfachen, alltäglichen Geschichten voller Humor", aber auch solchen, die nicht in Lateinamerika angesiedelt sind. Gamboas Roman "Das glückliche Leben des jungen Esteban" schildert den autobiografisch inspirierten Werdegang eines Autors, sein nachfolgendes Werk "Los Impostores" (was so viel wie Betrüger oder Hochstapler heißt), spielt in China. Es wird gerade in mehrere Sprachen übersetzt.

Franco und Gamboa können beide versichern, dass die Großen sich von ihrer Literatur nicht verraten fühlen, ganz im Gegenteil. "Ich weiß, dass García Márquez, den ich persönlich kenne, auf dem laufenden über die neue lateinamerikanische Literatur ist, sie liest und fördert", betont Franco. "Ich persönlich hatte das Glück, dass der Meister von meinen Romanen "Rosario Tijeras" und "Paraíso Travel" begeistert war und sie mit großem Lob kommentiert hat. Er hat mich dazu eingeladen, gemeinsam mit ihm der Workshop 'Wie erzählt man eine Geschichte' in Havanna, Kuba, zu leiten. Ich bin mir sicher, sowohl GGM [oder Gabo, wie die Lateinamerikaner García Márquez häufig nennen] als auch Carlos Fuentes glauben an die neue Generation von Schriftstellern."

BUCHTIPPS:

ROSARIO TIJERAS

Roman von Jorge Franco. Aus dem Spanischen von Susanna Mende.

Unionsverlag , Zürich 2002

189 Seiten, geb., E 15, 30

VERLIEREN IST EINE SACHE DER METHODE

Roman von Santiago Gamboa. Aus dem Spanischen von Stefanie Gerhold.

Unionsverlag, Zürich 2001. 344 Seiten, geb. E 10,20

DAS GLÜCKLICHE LEBEN DES JUNGEN ESTEBAN

Roman von Santiago Gamboa. Aus dem kolumbianischen Spanisch von Stefanie Gerhold.Wagenbach Verlag, Berlin 2002, 398 Seiten, kart., E 20,10

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