Habitus als Tempobremse

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Ein Wiener Professor kommt nach Japan und staunt: Die Kultur der Rücksichtnahme entschleunigt die Stadt. Impressionen aus dem vermeintlichen High-Speed-Land.

Viele Westeuropäer betreten die japanische Großstadt Kyoto wahrscheinlich mit einem stereotypen Modell der asiatischen Urbanität im Kopf: sie erwarten sich extreme bauliche Verdichtung und wirtschaftliche Dynamik, einen ruhelosen Autoverkehr mit hohen Emissionen, soziale Anonymität und menschliche Ruhelosigkeit. Alles in allem: höchste urbane Dynamik und soziale Unordnung. Doch schnell wird klar: Kyoto ist kein urbaner Shinkansen-Express. Sondern - überraschend - ein Ort der reduzierten Geschwindigkeit als Summe vieler Einflüsse.

Bauliche Verhältnisse wirken bremsend, sie können entspannende soziale Inseln in der Dynamik der Stadt konstruieren. Kyoto ist nach chinesischem Muster angelegt: Lange gerade geführte Hauptstraßen betten sozial und baulich diversifizierte Nachbarschaftsviertel ein. Sie sind ruhige Dörfer in der Stadt, mit schmalen Straßenführungen, die sich weiter verzweigen, verschmälern. Die Quartiere sind manchmal unvorstellbar dicht, fast abstandslos, bebaut. Auffällig sind die historischen oder nachgebauten alten Stadthäuser, die die bauliche Erinnerungskultur der Stadtbewohner vergegenständlichen. Kleinste private Restflächen werden zum öffentlichen Raum hin gerne mit Pflanzen kultiviert. Hier leben tiefere Kontinuitäten im Schatten der Moderne fort.

Keine parkenden Autos in der Stadt

Je weniger privatisiert der öffentliche Raum ist, umso bremsender wirkt er. Der öffentliche Raum in Kyoto ist größer, jedenfalls subjektiv. Warum: einfach, weil er frei ist von parkenden privaten Kraftfahrzeugen. Seit den 1950er Jahren ist in Japan der Kauf an den Nachweis eines Parkplatzes gebunden (auf dem eigenen Grundstück oder angemietet - was einen eigenen privaten Wirtschaftszweig stimulierte). Gewinner sind die Fußgänger und Radfahrer, auch spielende Kinder nehmen "Land“. Der öffentliche Raum wird für sie größer, übersichtlicher und sicherer. Kraftfahrzeuge werden selektiver benutzt und fahren weniger. Ein Auto, das man nicht irgendwo am Ziel gleich bequem abstellen kann, ist nutzlos. Man nutzt es unter dieser Restriktion bewusster und eher zum Wochenende.

Viele Flächen des öffentlichen Raumes in Kyoto sind "shared spaces“, über die zuhause neuerdings philosophiert wird. Die Verkehrsteilnehmer bewegen sich auf gleicher Fläche. Baulich getrennte Gehwege sind Ausnahmen, bremsende Aufpflasterungen nicht zu sehen. Eine Einladung zur Beschleunigung (für die Autofahrer)?

Der Radverkehr ist naturgemäß eine physikalische Tempobremse. Sind die vielen Radfahrer in Kyoto Bannerträger einer resistenten moralischen Mobilität in der Stadt - gegen die Autofahrer und für den Klimaschutz?

Der Radverkehr ist sichtbar sozial inklusiv. Junge Menschen und ältere, Manager und Mittelklassemütter mit behelmten Kindern fahren mit dem Rad. Geschickt und - in meinen Augen - auf andere vertrauend.

Um es zuzuspitzen: das Herunterfahren von Geschwindigkeit, das Entschleunigen im öffentlichen Raum, der Stadt von Beginn an konstituiert (nicht ihre Hochhäuser neuerdings), basiert auch auf Kultur (und allenfalls am Rande auf Gebotsschildern).

Wohltuendes Wir-Gefühl

Hier in Kyoto vermitteln die Menschen den Eindruck, dass sie sich in der Dynamik ihrer Stadt als Mitglieder einer Kultur wähnen. Die japanische Wir-Kategorie hat viele Facetten. Die Menschen bewegen sich im Alltag relativ geordnet, und sie werden bereitwillig situativ geordnet. Man geht links, nickt sich dann und wann als "Fremder“ zu. Niemand würde in einem öffentlichen Verkehrsmittel telefonieren - aus der Einsicht, er könne vielleicht andere, anonyme Dritte, stören.

Die Rücksichtnahme auf die "anderen“ ist ein japanischer Kulturfaktor. In unseren Zeiten der modernen dynamischen Urbanität ist Rücksichtnahme eine knappe, unverzichtbare Ressource, quasi eine soziale Tempobremse - und bestimmt auch ein Grund für die weltweit beneidete hohe Lebenserwartung der Japaner.

Der Autor ist ao. Uni-Professor in Wien und war bis Juni Gastprofessor in Kyoto.|

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