"Hass ist selbstzerstörend"

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Sie war eines jener menschlichen Versuchskaninchen, an denen der "Todesengel von Auschwitz", Josef Mengele, seine barbarischen Experimente vornahm. Heute plädiert sie für Vergebung: Eva Mozes Kor, Gründerin des Überlebenden-Verbandes "C.A.N.D.L.E.S.", im Furche-Gespräch.

Die Furche: Wie viele Mitglieder hat "C.A.N.D.L.E.S" ("Children of Auschwitz - Nazi's Deadly Lab Experiments Survivors")?

Eva Mozes Kor: 1984 hatte ich 122 Zwillingspärchen gefunden, die Mengeles Experimente überlebt hatten. Einige sind inzwischen verstorben. Zur Zeit hat der Verein 98 Mitglieder.

Die Furche: Welche Gemeinsamkeiten haben die Mengele-Zwillinge, und worin unterscheiden sie sich?

Mozes Kor: Die Zwillingspaare waren unterschiedlich alt, ihre Traumatisierungen sind daher unterschiedlich. Ich teile die Betroffenen in drei Altersgruppen ein: Menschen, die im Alter von einem bis zu acht Jahren nach Auschwitz kamen, sind am stärksten traumatisiert. Sie haben keine Erinnerungen mehr an ihre Eltern, ihr persönlicher Hintergrund ist wie ein tiefes schwarzes Loch, und niemand kann die fehlende Stücke einfügen. Die Gruppe der damals Acht- bis Dreizehnjährigen ist am "gesündesten". Diese Kinder wussten, wer sie waren, als sie ins KZ kamen: alle in dieser Gruppe konnten sich an ihre Eltern erinnern. Gleichzeitig waren diese Kinder noch nicht alt genug, um zornig auf die Kriegssituation und das Leben im KZ zu sein. Die Gruppe der damals über 13-Jährigen ist sehr zornig, sie können sich an alle Details im KZ erinnern, gerne hätten es viele von ihnen einfach vergessen.

Die Furche: Können auch andere Opfer der Nazis Mitglieder bei "C.A.N.D.L.E.S." werden?

Mozes Kor: Nein, das wollen wir nicht. 1984 suchten die Überlebenden der so genannten Kindertransporte um Mitgliedschaft an. Doch die Traumata sind zu verschieden. Mengele-Zwillinge haben spezielle Probleme, sie waren wissenschaftlichen Experimenten unterworfen, zudem waren sie die einzige Kindergruppe, die die ganze Zeit über beisammen war. Wir haben alle die gleichen Erfahrungen gemacht, alle unsere Mitglieder waren in Auschwitz.

Die Furche: Nehmen Sie die Hilfe eines Psychiaters oder eines Psychologen in Anspruch, um die Traumata zu bearbeiten?

Mozes Kor: Die meisten Mengele-Zwillinge nahmen sie nicht in Anspruch. Ich selbst bin bis 1966 nie bei einem Psychiater gewesen. Dann hatte ich so schwere Probleme, dass ich einem Psychiater meine Lebensgeschichte erzählte. Ich sei fast zu normal für das, was ich erlebt habe, meinte er. Drei oder vier Fälle aus der sehr jungen Gruppe der Mengele-Zwillinge nimmt psychologische Begleitung in Anspruch, der Rest von uns - so wie auch ich - nur dann, wenn wir Probleme haben, die wir alleine nicht mehr lösen können.

Die Furche: Als Sie und Ihre Schwester Miriam 1945 von den Sowjets aus Auschwitz befreit wurden, waren Sie allein: Fast Ihre gesamte Familie ist im KZ ermordet worden. Was haben Sie damals gefühlt?

Mozes Kor: Als Zehnjährige war ich eine ziemlich fertige Person. Weder im KZ noch später erlaubte ich mir, mich als Opfer zu fühlen. Ich sah mich als kleiner Soldat, der gegen die Nazis kämpfte. Vier Leute mussten mich halten, als sie mir die Nummer A-7063 einbrannten.

Die Furche: Mit wem konnten Sie damals über Ihre Erfahrungen im KZ reden? Welche Wege gingen Sie, um Ihr Trauma zu verarbeiten?

Mozes Kor: Zum ersten Gedenktag des Holocaust veranstaltete der Rabbi eine Bestattung jener Seifen, die wir aus dem KZ mitgebracht hatten. Er erklärte uns, dass sie aus menschlichem Fett - Fett der ermordeten Juden - gemacht seien. Auch ich hatte zwei Stück Seife aus dem KZ gebracht und gelernt, dass Seife etwas sehr Kostbares ist. Ich entwickelte Albträume: während ich mich mit einer Seife wusch, hörte ich die Stimmen meiner Eltern. Aus ihnen war meine Seife gemacht, sie waren da, wenn ich mich einseifte. Davon habe ich niemandem erzählt. Ein oder zwei Mal habe ich versucht, mit meiner Tante darüber zu reden, aber ich spürte gleich, dass an diesen Dingen nicht gerührt werden sollte. Mit Miriam habe ich auch in Auschwitz wenig gesprochen, so schwieg ich über meine Träume.

Die Furche: Wie entwickelte sich Ihre Fähigkeit, mit anderen Menschen über Ihre Erlebnisse zu sprechen?

Mozes Kor: Meiner Meinung nach muss ein Mensch, der schwer traumatisiert ist, sich erst physisch und emotional sicher fühlen, bevor er über sein Leid sprechen kann. Die emotionale Heilung braucht eine geraume Zeit. Ich gründete 1984 "C.A.N.D.L.E.S", meine Zwillingsschwester war anfangs sehr skeptisch, beklagte sich sogar, dass ich so etwas Großes machen will. Schließlich wurde Miriam eines der engangiertesten Mitglieder: Sie ging zu Familienfeiern von Mengele-Zwillingskindern - das war ihr Ersatz der fehlenden Verwandten. Ich habe die Organisation aus eigenem Interesse gegründet: Ich wollte wissen, wie die anderen mit ihren Erlebnissen fertig wurden, wie sie sich damit auseinandersetzen. 1960 ging ich mit meinem Mann - ebenfalls ein Holocaust-Überlebender - von Israel nach Amerika. Ich fühlte mich sicher: was sollte in diesem großen Land, der Wiege der Demokratie und Freiheit, noch schief laufen? Bis 1966, als wir bereits zwei kleine Kinder hatten, zu Halloween Maiskörner gegen das Fenster prasselten. Plötzlich waren die Erinnerungen an die Jahre 1942 bis 1944 ganz nah: Damals wurde unser Haus oft angegriffen, um sich mit uns Juden einen schlechten Spaß zu machen. Die amerikanischen Kinder begannen bald, Ziegelsteine in meine Fenster zu werfen: "Dreckige Jüdin" riefen sie mir nach. Ich suchte den Kontakt zu ihren Müttern. Doch für die war ich eine verrückte Überlebende aus dem KZ und ich ahnte, dass diese Frauen nicht wussten, wovon sie so locker sprachen. Die Holocaustdokumentation von NBC hat mir geholfen: Auf einmal sahen die Leute, wie es in den KZs zugegangen war, wie die Juden dort umkamen. Ich begann Vorträge zu halten und in lokalen Radiostationen aufzutreten. Für die anderen war es oft befremdend, jemanden zu treffen, der mit der eintätowierten Nummer am Arm neben ihnen sitzt und vom KZ erzählt. In dieser Zeit habe ich gespürt, wieviel Kraft ich habe: Wenn ich schon Mengeles Experimente überlebt hatte, wollte ich nun über Auschwitz informieren.

Die Furche: Sie haben im Rahmen Ihrer Kampagnen begonnen, Mengele sowie den übrigen KZ-Ärzten zu vergeben. Als Sie Mengele vergeben konnten, haben Sie auch Ihren Eltern vergeben, die Sie damals nicht vor dem Schicksal in Auschwitz bewahren konnten. Waren religiöse Beweggründe ausschlaggebend für diese Vergebungen?

Mozes Kor: Nein, ich bin nicht religiös. Ich war zehn Jahre alt, als ich ins KZ kam, und sehr religiös. Wäre ich religiös geblieben, wäre ich im KZ gestorben. Ich musste vieles tun, was mir die Religion verboten hat, etwa Nicht-Koscheres essen: Ich wollte nur überleben. Ja, ich habe vergeben: Ich selbst habe gespürt, dass dieses Nicht-Vergeben-Können wie ein Rucksack an mir lastete. Menschen, die ihren Hass auf die Nazis nicht loslassen können, sind noch immer in deren Macht. Hass ist selbstzerstörend, und ich wollte meine Selbstzerstörung beenden: Der ehemalige Nazi-Arzt Hans Münch hat im Jänner 1995 in Auschwitz ein Dekret unterschrieben, in dem er seine Beteiligung im Dienste der SS 1944 in Auschwitz zugab. Das Motto von "C.A.N.D.L.E.S" lautet eben: Lass uns Hass und Vorurteile aus der Welt schaffen. Und lass mich bei mir anfangen.

Die Furche: Die Tendenz, das Naziregime sowie die Vorgänge in den KZs zu verharmlosen, nimmt zu. Wie begegnen Sie diesen Abwiegelungen?

Mozes Kor: Wegen Hitler haben auch viele Österreicher und Deutsche gelitten. Ich würde Menschen, die die NS-Zeit verharmlosen, einfach nach ihrer Familie fragen. 117 Mitglieder meiner Familie sind durch das NS-Regime von der Erdoberfläche verschwunden. Haben die, die unser Leid abschwächen wollen, auch ihre ganzen Familien verloren? Ich würde auch fragen, warum Menschen sich wieder eine Person wie Hitler wünschen. Möchten sie wirklich, dass wieder alles zerstört wird? Hass hat niemals etwas Gutes hervorgebracht.

Das Gespräch führte Christina Gastager-Repolust.

Zwischen Barbarei und Vergebung

Eva Mozes Kor, 1934 in Portz in Rumänien geboren, kam 1944 mit ihrer Zwillingsschwester Miriam in das KZ Auschwitz; ihre Eltern und zwei ältere Schwestern wurden dort ermordet. Man brannte der Zehnjährigen die Nummer A-7063 in den Arm. Dann begann Josef Mengele, von 1943 bis 1945 Chefarzt des Vernichtungslagers, an ihr und Miriam sowie anderen Zwillingspärchen seine tödlichen Experimente. Starb ein Zwilling, erhielt der andere eine Phenol-Injektion ins Herz, um vergleichende Autopsien vornehmen zu können. Von 1.500 Zwillingspaaren überlebten Schätzungen zufolge weniger als 200 Einzelpersonen. KZ-Arzt Mengele wurde für den Tod von etwa 400.000 Juden verantwortlich gemacht. Nach Kriegsende geriet er in amerikanische Gefangenschaft, wurde jedoch noch im September 1945 aus Unkenntnis entlassen und floh 1949 nach Argentinien, wo er vermutlich 1979 starb.

Eva Mozes Kor lebte nach ihrer Befreiung im kommunistischen Rumänien, 1950 emigrierte sie nach Israel, 1960 in die USA nach Terre Haute (Indiana). 1984 gründete sie den Verband "C.A.N.D.L.E.S" (Children of Auschwitz - Nazi's Deadly Lab Experiments Survivors). Die Vereinigung führt in Terre Haute ein Holocaust Museum und ein Pädagogisches Zentrum.

Als Präsidentin von "C.A.N.D.L.E.S" vermittelte sie kürzlich im Rahmen der 51. Internationalen Pädagogischen Werktagung in Salzburg über tausend Pädagoginnen und Pädagogen den Weg ihrer Heilung von Auschwitz und Mengeles Experimenten.

Nähere Informationen zum Holocaust-Museum unter www.candles-museum.com.

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