Hautnah entdecken

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Viele sind den Weg gegangen: David, Jesaja, Jesus, Paulus, Pilger durch Jahrhunderte. Seit 2000 Jahren ist die Richtung gleichgeblieben: Jerusalem.

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Viele sind den Weg gegangen: David, Jesaja, Jesus, Paulus, Pilger durch Jahrhunderte. Seit 2000 Jahren ist die Richtung gleichgeblieben: Jerusalem.

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Pilgern nach Jerusalem ist heute nicht obsolet. Auch als evangelische Theologin, die vor Ort tätig ist, finde ich gute Gründe, zu einer Pilgerschaft in die "Stadt des Friedens" einzuladen.

I. Das Jesaja-Konzept "Kommt, laßt uns auf den Berg des Herrn gehen." (Jesaja 2,3) Von alters her ist das der Weg des Pilgers: zum Begegnungsort Gottes mit den Juden und den Nichtjuden, dieser Dreiecksbeziehung, deren Mittelpunkt Jerusalem ist. David ging diesen Weg. Auch Jesaja. Und Jesus. Der äthiopische Eunuch aus der Apostelgeschichte ging ihn. Und Paulus. Die Glaubenstreue Jesu zeigt sich daran, daß auch er diesem Weg nach Jerusalem folgte, und wie er seine Jünger auf dem Weg lehrte. Zu lehren, wie man sich "unterwegs" verhalten soll, ist sinnvoll, wenn man sich gerade auf der Straße befindet. Moderne Fahrschulen wissen das.

Pilger wissen das ebenfalls. Zum Beispiel Egeria, die spanische Nonne, die im Jahre 381 hierher kam: Sie war begeistert von der Liturgie der Christen in Jerusalem. In Europa wurde ihr Pilgerbericht zu einem Bestseller. Jeder wollte die wunderbare Liturgie feiern, die Egeria auf dem Weg kennenlernte. Das Ergebnis: Diese Liturgie begleitet uns auch ins dritte Jahrtausend und verbindet jede Kirche von Tokio bis New York, von Addis Abeba bis Paris, von Moskau bis Osnabrück.

Es geht darum, die Möglichkeiten zu optimieren, um mehr Menschen anzuziehen. Aber wozu? Um der Tourismusindustrie zu helfen? Nichts dagegen. Aber viel wichtiger: Die Kirchen in Jerusalem sind voller Menschen, die Golgota sehen wollen: Jesu Anwesenheit ist plötzlich eine Wirklichkeit - über Worte und theologische Konzepte hinweg. Einmal sah ich einen Touristen aus Seoul am Altar von Golgota in der Grabeskirche knien und Fotos machen. Eins? Zwei? Fünf? Nein: acht Filme! Er wollte sicher sein, für den Diavortrag in seiner Pfarre genug Material zu haben. Die achtzig Menschen hinter ihm warteten geduldig in der Schlange - mit Ausnahme der Schülergruppe, mit der ich unterwegs war.

Das Jesaja-Konzept optimiert die Möglichkeiten, die Richtung ist seit 2000 Jahren die gleiche: Jerusalem. Das Ergebnis: Mehr und bessere Christen.

II. Jerusalems Kirchen Zum Beispiel die evangelische Erlöserkirche in der Jerusalemer Altstadt, gleich neben der Grabeskirche, in der Nähe der koptischen Kirche und des griechisch-orthodoxen Patriarchats. An Sonntagen treffen wir dort die Syrer auf dem Weg zum Gebet, wir laden den armenischen Chor in unseren Gottesdienst ein, wir beherbergen katholische Benediktiner aus der Dormitio-Abtei: Wo in Deutschland oder Österreich kann ein Protestant all die anderen Christen als Mitglieder der weltweiten Familie Jesu so hautnah entdecken? In den Jerusalemer Kirchen fühlen wir uns als Mitglieder des einen Leibes Christi - nicht in der Theorie, sondern in farbenprächtiger Wirklichkeit.

In unserer Erlöserkirche treffen einander auch Christen und Juden. Hartnäckige Mißverständnisse über den anderen verschwinden in der Begegnung von Angesicht zu Angesicht : Juden entdecken, daß die Christen kein Stamm von Judenhassern sind, und wir Christen gestehen ein, daß die Juden kein ewig zum Exil verdammtes Volk sind. Der Wert dieser Begegnung wird durch eine Pilgerfahrt nach Israel verändert: Christen kommen, um Jesus zu suchen - sie werden aber sofort mit seiner ganz und gar irdischen jüdischen Familie konfrontiert.

Für beide, Juden und Christen, ist die Begegnung nicht einfach, sondern kontroversiell, schwierig, zeitweise bedrückend, aber auch eine anregende und immer öfter freudig.

III. Luther ins Heute übersetzen Gute Lutheraner schulden dem großen Reformator viel. Sogar unsere katholischen Brüder haben in den letzten Jahren über ihn ein oder zwei gute Worte verloren. Aber wenn wir über Luther reden, als wäre er seit dem 16. Jahrhundert eingefroren, ist auch unser Glaube in Gefahr auszukühlen.

Wäre Luther in seiner Zeit über die Juden und das Land Israel gefragt worden, hätte er geantwortet: "Lest meinen Kommentar zum Buch Genesis. Dort steht, daß die Verheißungen an die Kinder Abrahams Verheißungen an die Christen sein müssen, nicht an die Juden. Wären die Verheißungen an die Juden gerichtet, müßten sie in ihr Land zurückkehren." Heute sollte Luther sagen: "Ich habe voreilige Schlüsse gezogen: sie müssen zurück in ihr Land kommen, denn die Verheißungen an Abraham waren tatsächlich für sie gedacht."

Und wenn Luther über das Heilige Land gefragt worden wäre? Luther erklärte seinen Anhängern, Pilgerreisen zu fernen Orten wären nicht notwendig. Jerusalem sei überall zu finden, sogar in jedem Dorf Deutschlands. Reisen nach Jerusalem waren damals beschwerlich und gefährlich und lagen außerhalb der Möglichkeiten der meisten Menschen. Die feindlichen Türken kontrollierten ja nicht bloß Jerusalem, sie waren nach Europa übergeschwappt und belagerten Wien. Luther wollte all die Christen trösten, die sich nach Jerusalem sehnten, aber nicht hinkonnten. Heute könnte er sagen: "Kein Grund zur Sorge: Mit dem Flugzeug sind es nur ein paar Stunden. Sind die Türken noch immer in Jerusalem? Ja: Sie haben ein Konsulat hier. Alles, was ihr in meiner Bibelübersetzung gelesen habt, könnt ihr euch nun selbst anschauen."

Die Autorin, evangelische Pfarrerin in Jerusalem, leitet "The Ecumenical Theological Research Fraternity in Israel".

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