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Die Auslagen von Buchläden, und die privaten Bücherschränke enthalten heute Publikationen wie: Dinkelkochbuch, Backen und Kochen mit Hildegard von Bingen, Rezepte und Ratschläge für ein gesundes Leben, Hildegard-Ernährungslehre, Hildegard-Medizin (Behandlung von Frauenleiden, Umweltkrankheiten, Migräne und Kopfschmerz ...) Wer diese Werke genau gelesen hat, wird in ihnen keinen Beleg gefunden haben, daß die Rezepte tatsächlich von Hildegard von Bingen aufgeschrieben worden waren. Hildegard hat weder Rezeptsammlungen noch genaue Fastenprogramme entwickelt, auch keine eigene Ernährungslehre verfaßt, und dennoch hat sie ganz Wesentliches zum Gesundbleiben und Gesundwerden hinterlassen.

Im Vorwort des zweiten Teiles ihrer theologischen Trilogie, dem "Liber Vitae Meritorum (Der Mensch in der Veranwortung)" zählt Hildegard sämtliche von ihr bis zu diesem Zeitpunkt verfaßten Schriften auf, unter anderem ein Buch "Über die Feinheiten der verschiedenen Naturen der Geschöpfe", dessen Entstehung zwischen 1151 und 1158 angesetzt wird. Anders als von den drei großen theologischen Werken sind von diesem naturkundlichen Werk keine vollständigen Handschriften mehr erhalten, die bis in die Schreibstuben der Klöster Hildegards zurückweisen. Wahrscheinlich schon bald nach Hildegards Tod (1179) wurde dieses eine Werk in zwei Teile getrennt, in "Liber Simplicis Medicinae" und "Liber Compositae Medicinae". Der erste Teil ist eine Darstellung der Eigenschaften und Kräfte von Pflanzen, Steinen, Tieren und Metallen, der zweite eine kosmologisch und anthropologisch ausgerichtete Heilkunde. Heute ist der erste Teil als "Physica - Heilkräfte in der Natur" bekannt, der zweite als "Causae et Curae - Heilswissen - Von den Ursachen und der Behandlung von Krankheiten".

Hildegards Aussagen sind wesentlich für die menschliche Existenz. Seit ihrer Kindheit besaß sie die Gabe einer außergewöhnlichen Schau. Es wurde ihr von Gott eine innere Einsicht geschenkt: Hildegard versteht den Plan der Heilsgeschichte, erfaßt den Sinn, begreift die Ordnung des Kosmos, legt das innere Wesen in den verschiedenen Naturen dar und beschreibt es. Sie weiß um das Entstehen von Krankheiten, Heilung und Heilwerden des Menschen. Darum verdient es Hildegard von Bingen, dem Bewußtsein heutiger Menschen nahegebracht zu werden. Durch sie wird der Mensch hellwach für die großartige Einheit von Heilung und Heil. Darum haben ihre Heilweisen für unsere Zeit eine besondere Bedeutung. Wird nicht der Ruf nach Ganzheitlichkeit immer lauter? Die ganze Person muß in das Heilungsgeschehen einbezogen werden. Damit darf aber nicht nur die Leib-Seele-Einheit des Menschen gemeint sein, sondern auch eine Ausrichtung des Menschen auf Gott hin: Für Hildegard ist Heilung nicht nur das Verschwinden eines Krankheitssymptoms, sondern das Heilwerden des ganzen Menschen, die Wiederherstellung des Menschen - so wie ihn Gott gedacht hat. Von Gott und auf ihn hin erschaffen, aus den Weltelementen geformt, von der Natur abhängig, mit dem Hauch des Geistes belebt, mit Verstand und freiem Willen begabt. Dieser so ausgestattete Mensch als Person ist es, der gesund oder krank ist. Der Mensch muß deshalb als lebendige Person ernst genommen werden. Man muß mit ihm sprechen, er selbst muß sich aussprechen, denn er ist ein dialogisches Wesen. Für Hildegard steht alles miteinander in Dialog: der Mensch mit Gott, mit der Natur, mit dem Mitmenschen und mit sich selbst. Im Umgang mit Hildegard von Bingen ist es möglich, aus der Zweckorientiertheit, Nüchternheit und kalten Berechnung auszusteigen und als fühlender Mensch dem Mitmenschen zum Heil zu verhelfen.

Angesichts des gewaltigen Lebenswerkes der Hildegard von Bingen können wir uns kaum vorstellen, daß sie eine schwache Konstitution hatte und häufig von Krankheiten geplagt wurde. Sie erfuhr allzu häufig an sich selbst, wie Leib und Seele eine Einheit bilden, wie geistige und seelische Schwierigkeiten den Körper krank machen können, und umgekehrt ein schwacher Körper die Seele hemmt. Aber Hildegard wurde trotzdem bis ins hohe Alter immer wieder neu geschaffen von der "Viriditas", der "grünen Lebenskraft", dem ersten großen Pfeiler von Hildegards Heilweisen, die sie dem Menschen näherbringen will. Denn sie lebt aus dem ursprünglichen Leben, aus der lebendigen Kraft Gottes: Eingebettet ist das Leben der Menschen in einen großen göttlichen Lebensstrom, der nicht mit dem diesseitigen Leben endet. Leben verdorrt, wenn wir uns von der Fülle der "Grünkraft" entfernen, und weil wir oft glauben, uns von der Lebensfülle - von Gott - abnabeln zu müssen: Wir verlieren unsere Kraft und sind belastet mit unserer Entfremdung. Heilung nach Hildegard von Bingen kommt an dieser "Viriditas" nicht vorbei: Sie ist Lebensenergie, Kraft in den Keimen, sexuelle Kraft, kreative Kraft und in jedem Gras, jedem Menschen erkennbar. Die "Grünkraft" steht dem Menschen immer zur Verfügung.

Nun aber zum zweiten Pfeiler der Hildegard-Heilweisen. Hildegard beschreibt in ihrer "Physica" das innere Wesen der verschiedenen Naturen der Geschöpfe, und wie sehr der Mensch auf den "Heilwert", die "Subtilität" der Nahrung, angewiesen ist. In ihrem Buch "Welt und Mensch" findet sich die einsichtsvolle Stelle: "Sind doch in der ganzen Natur, in den Tieren, den Reptilien, Vögeln und Fischen, in den Pflanzen und Fruchtbäumen bestimmte verborgene Geheimnisse Gottes verhüllt, die kein Mensch, auch kein anderes Geschöpf kennen oder empfinden kann, es sei denn, daß es ihm von Gott besonders geschenkt wird." Hildegard weiß um das innere Wesen und die verborgenen Kräfte in allem Geschaffenen. Ihre Heilweise geht dem Wesen und den Ursachen der Dinge auf den Grund. Nach Hildegard werden Lebens- und Heilmittel nicht nur nach ihren Bestandteilen und Wirkstoffen analysiert. Es ist wichtig, in ihren Schriften zu lesen, daß die Heilkräfte der Natur nicht nur auf den Leib und seine Organe wirken, sondern auch auf die Seele und den Geist. Über die Säfte des Organismus werden auch die Gefühle und Gedanken beeinflußt. Nach Hildegard ist es für den menschlichen Gemütszustand nicht gleichgültig, aus welchem Getreide unser Brot gebacken ist, welches Gemüse wir essen: Insgesamt ist nämlich die "klinische" Wirksamkeit größer als die Summe aller pharmakologischen Eigenschaften der Inhaltsstoffe. Gesundheit ist ein ständiger Prozeß in einem labilen Gleichgewicht. Hildegard beschreibt die Feinstofflichkeit und sagt, daß der Mensch gesund ist, wenn sich die Säfte im richtigen Verhältnis zueinander befinden. Der Mensch soll sich so ernähren, daß die Säfte im Gleichgewicht bleiben. Es gibt Nahrungsmittel, die das Gleichgewicht der Säfte in ganz empfindlicher Weise stören. Deshalb unterscheidet Hildegard gesundmachende, gesunderhaltende und krankmachenkönnende Nahrungsmittel.

Durch die Schriften der Hildegard von Bingen geht noch ein außerordentlich wichtiger Leitgedanke. Es wäre der dritte Pfeiler ihrer Heilweise: der Mensch ist das Geschöpf Gottes und hat nicht nur seinen Namen, sondern auch sein speziell auf ihn zugeschnittenes rechtes Maß, die "Discretio". Jeder Mensch besitzt ein für ihn allein geltendes rechtes Maß, und muß diese "rechte Unterscheidung" jeden Tag neu erwägen. Verletzt der Mensch sein rechtes Maß und wird dadurch unmäßig, so verfällt er der Krankheit. Wer es nicht einhält im Essen und Trinken, im Schlafen und Wachen, in Arbeit und Freizeit, in Konzentration und Entspannung, muß damit rechnen, daß er früher oder später krank wird. Der Mensch soll in allen Dingen sein rechtes Maß halten.

Hildegard hilft durch ihre Darlegungen, gesund zu bleiben und zu werden. Die richtige Ernährung, die rechte Lebensweise, aber auch das "Ausleiten" von "Unsäften" über bestimmte Lebensmittel, Gewürze und Kräuter gehören zu diesem Prozeß. Wenn Hildegard auch kein eigenes Fastenprogramm zusammengestellt hat, so spricht sie vom Fasten als "wunderbarem Heilmittel" und alsVorgang, der einerseits mit schlechten Schlacken und Säften aufräumt, andererseits seelische Lasten und schlechte Eigenschaften und Gewohnheiten des Menschen zu beseitigen vermag, die wiederum sehr wohl körperliche Krankheiten verursachen. Überdies, sagt sie, schärft Fasten die Sinnesorgane und beflügelt den Geist.

Die heutige Schulmedizin wird kritisiert, sie versuche, den Krankheit auf Symptome zu reduzieren, die es abzuschalten gilt. Hildegard dagegen hat den ganzen Menschen im Blick, der mit all seinen psychosomatischen, psychosozialen und religiösen Bezügen krank wird. Medizin meint hier mehr als "Wegmedikamentieren" von Störungen, sie versteht sich als Dienst am umfassenden Heil, in dem körperliche, seelische und soziale Heilung des Menschen eingeschlossen sind. Hildegards Heilweisen führen zum ganzen, heilen Leben. Diesen Sinn zum Heilen können wir auch in unserer Zeit der Spezialisierungen finden, wenn wir uns auf eine andere Sicht einlassen, nämlich Irdisches und Himmlisches nicht länger voneinander zu trennen. Denn untrennbar, ja freilich auch unmischbar ist beides miteinander verbunden. Zu jedem Stück Diesseits gehört ein Stück Jenseits wenn ich heil sein will.

Hildegard darf daher auch nicht zum Kräuterweiblein herabgesetzt werden, bei dem man gegen alles und jedes ein Kraut gewachsen findet: sonst käme eine Haltung zutage, die wieder nur störende Symptome abzuschalten im Sinne hat.

Die Autorin studierte Ernährungswissenschaften, Biologie und Psychologie und ist als Erwachsenbildnerin (Schwerpunkt: Hildegard von von Bingen) tätig.

Getreide, Gewürz und ein Hildegard-Rezept Dinkel "Der Dinkel ist das beste Getreide, und er ist warm und fett und kräftig, und ist milder als andere Getreidearten, und er bereitet dem der ihn ißt, rechtes Fleisch und rechtes Blut, und er macht frohen Sinn und Freude im Gemüt des Menschen. Und wie auch immer die Menschen ihn essen, sei es in Brot, sei es in anderen Speisen, er ist gut und mild. Und wenn einer so krank ist, daß er vor Krankheit nicht essen kann, dann nimm die ganzen Körner des Dinkels und koche sie in Wasser, seihe ab, nehme das Wasser, füge etwas Butter oder Eidotter bei und gib des dem Kranken zu essen und es heilt ihn innerlich wie eine gute und gesunde Salbe." (aus: Hildegard v. Bingen, Physica) Muskatnuß "Die Muskatnuß hat große Wärme und eine gute Mischung in ihren Kräften. Und wenn ein Mensch Muskatnuß ist, öffnet sie sein Herz und reinigt seinen Sinn und bringt ihm einen guten Verstand. Nimm, wie auch immer, Muskatnuß und in gleichem Gewicht Zimt und etwas Nelken und pulverisiere das. Und mach mit diesem Pulver und mit Semmelmehl (Dinkelweißmehl) Törtchen und iß diese oft und es dämpft die Bitterkeit des Herzens und deines Sinnes, und es öffnet dein Herz und deine stumpfen Sinne und es macht deinen Geist fröhlich und reinigt deine Sinne, und es mindert alle schädlichen Säfte in dir, und es verleiht deinem Blut einen guten Saft und macht dich stark." (aus: Hildegard v. Bingen, Physica) Hildegard-Nervenkeks Aus obigen Angaben ergibt sich folgendes Rezept: 2,3 dag Muskatnußpulver, 2,3 dag Zimtpulver, 1/2 dag Gewürznelkenpulver, 1/2 kg Dinkelmehl, 1/4 kg Butter, 15 dag Vollrohrzucker, 4 Eier, 5 dag gemahlene süße Mandeln.

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