Heimkehr nach Europa

19451960198020002020

Der Reformprozeß hat an Dynamik eingebüßt, zudem tickt die politische Zeitbombe der Benes-Dekrete.

19451960198020002020

Der Reformprozeß hat an Dynamik eingebüßt, zudem tickt die politische Zeitbombe der Benes-Dekrete.

Werbung
Werbung
Werbung

Ob er gelegentlich zurückdenkt an die Zeit vor zehn Jahren, Vaclav Havel, der Dichter-Präsident an der Spitze der Tschechischen Republik? Damals war er (im Westen) ein angesehener Schriftsteller, dessen prachtvoll-aufregenden Stücke seit Mitte der siebziger Jahre mit schöner Regelmäßigkeit im Wiener Akademietheater überaus sehenswerte Uraufführungen erlebten. An denen konnte Havel - der 1968 den Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur erhalten hatte - allerdings nicht teilnehmen. Denn das KP-Regime in der damaligen CSSR verweigerte dem engagierten, unbeugsamen Bürgerrechtskämpfer trotz offizieller Einladungen zu diesen Anlässen die Ausreise nach Wien. Statt dessen erlebte Havel Verfolgung und Haft.

Zuletzt war er - nach einem von Polizei und Miliz mit Brachialgewalt verhinderten Versuch, gemeinsam mit anderen Bürgerrechtlern am Prager Wenzelsplatz anläßlich des 20. Jahrestages der Selbstverbrennung des Studenten Jan Palach Blumen niederzulegen - Ende Februar 1989 zu neun Monaten verschärfter Haft verurteilt worden. Aber nur wenige Monate später, am 29. Dezember, wurde er zum Staatspräsidenten gewählt.

Die "samtene Revolution" hatte gesiegt, die Zeitenwende war vollzogen, wenn auch ihre Folgen damals selbst von erfahrenen Beobachtern unterschätzt wurden. Wie man beispielsweise im Außenpolitischen Bericht 1989 nachlesen kann, wo in einer Prognose über "die künftige Außenpolitik der Tschechoslowakei" zwar eine "verstärkte Annäherung an Westeuropa" erwartet wurde, gleichzeitig aber auch die "Beibehaltung wichtiger Grundlagen", also der Mitgliedschaft in Warschauer Pakt und im Comecon. Nun, Warschauer Pakt und Comecon gehören ebenso wie die CSSR selbst der Vergangenheit an. Aus der CSSR entstanden zwei neue Staaten: Tschechien und die Slowakei; Tschechien ist seit dem 12. März dieses Jahres Mitglied der NATO und gehört gemeinsam mit Estland, Polen, Slowenien, Ungarn und Zypern zur sogenannten Fünf-plus-eins-Gruppe, also zu jenen Beitrittskandidaten, mit denen die Europäische Union als erste am 31. März des Vorjahres Verhandlungen aufgenommen hat.

Selbstzufriedenheit Der Wandel könnte größer kaum sein. Das bestätigt auch ein Augenschein im Lande selbst. Nichts mehr von jenem unsäglichen, beklemmenden Mief, dem typischen Ostblock-Geruch von einst, der als Ausdünstung des realen Sozialismus vier Jahrzehnte über dem Lande lag. Kenn- und Markenzeichen eines ebenso unmenschlichen wie unästhetischen Terrorregimes, das den Staat im wahrsten Sinn des Wortes verludern und verlottern ließ. Spuren dieser Zeit sind zwar noch da, doch zu einem guten Teil bereits beseitigt.

Westlicher Standard ist angesagt; Landschaft und Naturdenkmäler, Städte und Dörfer mit ihren architektonischen Perlen, ihrer Kunst und Kultur präsentieren sich in neuer Schönheit den Besuchern, die von Tschechien mehr wissen wollen als, daß es dort böhmische Dörfer gibt.

Der Transformationsprozeß, die Heimkehr Tschechiens nach Europa ist im Gang, hat aber - für aufmerksame Beobachter nicht zu übersehen - an Dynamik eingebüßt. Jaroslav Jaks - Integrationsexperte und Professor an der Wirtschaftsuni in Prag - bestätigt gegenüber Besuchern aus Österreich diesen Befund: die Tschechische Republik habe "in den letzten beiden Jahren an Schwung verloren"; dahinter stünden "eine ziemlich schwache Motivierung", aber auch "eine gewisse Arroganz" und eine (allzu) "große Selbstzufriedenheit": "Wir leben ja nicht schlecht." In dieser Situation könne Tschechiens Zugehörigkeit zur ersten Beitrittsgruppe gefährdet sein, könnten andere Länder auf dem Weg in die Europäische Union - die sich "halbfertige Mitglieder" nicht mehr leisten könne und wolle - an Tschechien vorbeiziehen.

Die deutschsprachige "Prager Zeitung" ortete nach dem Parteitag der regierenden CSSD von Premier Milos Zeman gar die tschechische Sozialdemokratie "an der Schwelle einer Krise": "Nach neun Monaten der Regierung Zeman fehlen der Partei Willen und Wissen, was sie zu tun hat, um den Beweis anzutreten, daß sie zu Recht ein gewichtiger Faktor auf der tschechischen politischen Bühne ist." In einer anderen Ausgabe des Blattes war von einem "Reformstau" (der Begriff klingt auch österreichischen Ohren vertraut) die Rede, der zu einem Aufruf engagierter Wirtschaftsexperten geführt habe, in dem wichtige Reformschritte eingefordert wurden. Ohne sie würden sich "die Mißstände vertiefen", würden Banken und Unternehmen "in eine noch tiefere Krise rutschen", warnte ein Sprecher der besorgten Experten.

Zum Reformstau gesellt sich eine steigende Kriminalitätsrate, der die Polizei nicht Herr wird, die bei vielen Bürgern - auch dies ein Erbe der Diktatur - keinerlei Vertrauen besitzt. Kleinkriminalität, Einbrüche und Diebstahl gehören zum Alltag. In Prag ist insbesondere die Metro bevorzugtes Revier von Taschendieben, die auch vor Rempeleien nicht zurückscheuen. Daneben blüht die Prostitution; in besonders abstoßender Form entlang grenznaher Fernstraßen - wie etwa auf der Strecke von Eger nach Deutschland -, aber auch in den Hallen größerer Hotels. Was allerdings niemanden zu stören scheint.

Benes-Dekrete So tun, als wär' nichts. An der Wirksamkeit dieses Rezeptes bei der Beseitigung von Mißständen darf gezweifelt werden. Ganz sicher aber hilft diese Devise dort nicht weiter, wo ein Gründungsmythos der Nachkriegs-Tschechoslowakei auf dem Prüfstand steht: in der Beurteilung der Benes-Dekrete, auf deren Grundlage nach Kriegsende drei Millionen Deutsche, deren Vorfahren zum Teil seit Jahrhunderten in Böhmen und Mähren lebten, als Rache für die Verbrechen des Nationalsozialismus in grausamster Art und Weise entrechtet und ermordet, enteignet und vertrieben wurden. Was damals geschah, wurde niemals aufgearbeitet, wurde in der Zeit des KP-Regimes und des Kalten Krieges stets gerechtfertigt. Heute ist die Vertreibung das Tabuthema Tschechiens schlechthin, das kaum jemand anzurühren wagt.

Doch liegt hier ein gefährlicher Stolperstein auf Tschechiens Weg in die Europäische Union. Denn vieles spricht dafür, daß die Benes-Dekrete, die von deutscher Kollektivschuld ausgehen, der Überprüfung durch den Europäischen Gerichtshof in Straßburg beziehungsweise durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in Luxemburg nicht standhalten werden. Eine solche Überprüfung wäre nach einem EU-Beitritt Tschechiens relativ einfach zu erreichen. Und zwar im Zuge der Beschreitung des Rechtsweges durch betroffene Bürger, wozu wohl Nachkommen von Vertriebenen zu zählen wären.

Hier tickt eine politische Zeitbombe von beträchtlicher Sprengkraft in der tschechischen Politik, zu deren Entschärfung die politisch Verantwortlichen längst aufgerufen sind. Doch die beschränkten sich bisher auf die unverbindliche Floskel von den "korrekten Beziehungen", die Tschechien mit Deutschland verbinden sollten, das zugleich einer der wichtigsten Staaten in jener EU ist, in die Tschechien aufgenommen werden will.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung