Heißes und kaltes Gedächtnis

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Zur politischen Halbwertszeit des faschistischen und des kommunistischen Gedächtnisses.

In seinen Reflexionen über das 20. Jahrhundert, "Reflections on a Ravaged Century", gesteht Robert Conquest, dass er - trotz all seiner schonungslosen Kritik der sowjetischen Gräuel - den Holocaust "als weit schlimmer empfindet" als die stalinistischen Verbrechen. Diese unterschiedliche Intensität der Gefühle bildet für historische Erklärungsversuche ein schwieriges Terrain; dennoch sind diese Gefühle wichtig. Zufällig teile ich sie und mit mir teilen sie viele andere in Europa, Amerika und anderswo, die über Geschichte nachdenken. Der vorliegende Essay fragt, warum viele so fühlen, gleichgültig, inwieweit sie das enorme Ausmaß der kommunistischen Verbrechen zuzugeben bereit sind - von absichtlich herbeigeführter Hungersnot und ethnischer Säuberung über Tausende und Abertausende von Justizmorden bis zum Netzwerk von Strafarbeitslagern, in denen Tod durch Unterkühlung und Unterernährung an der Tagesordnung war. Warum also bleibt das Schwarzbuch des Nationalsozialismus im Bewusstsein so vieler, die sich mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigen, schwärzer als das Schwarzbuch des Kommunismus? Und was besagt dieses Intensitätsgefälle für die zwei Formen historischen Gedächtnisses?

Natürlich ist schon die Prämisse anfechtbar. Viele bestreiten, dass das Gedächtnis der Naziverbrechen ein noch überwältigenderes Grauen festhält, eine noch dauerhaftere traumatische Qualität besitzt als dies beim Gedächtnis der stalinistischen Verbrechen der Fall ist. Viele Osteuropäer, die den Kommunismus erlebt haben, würden einwenden, dass es sich bei einer derartigen Gewichtung traumatischer Erinnerung in Wirklichkeit um die besondere Sichtweise westlicher Intellektueller handelt, von denen einige jahrzehntelang marxistisch orientiert waren, andere (oftmals dieselben) Juden waren und darum ein Gefühl persönlicher Wehrlosigkeit mitbrachten, das ihnen den Holocaust als die akutere Bedrohung erscheinen ließ. Dennoch, so glaube ich, lässt sich mit Recht argumentieren, dass das Gedächtnis der Naziverbrechen nicht verblasst ist, aber das der kommunistischen Verbrechen sehr wohl.

Ich habe angeregt, die Qualität dieser Differenz durch die Verwendung der Begriffe "heißes" und "kaltes Gedächtnis" zu veranschaulichen. Um eine Metapher aus dem Bereich der Kernphysik zu entlehnen: kollektives Gedächtnis mit einer langen Halbwertszeit, ein Plutonium der Geschichte, das die Landschaft mit seiner destruktiven Strahlung auf Jahrhunderte verseucht - und der weit weniger dauerhafte radioaktive Niederschlag z. B. des Isotops Tritium, der sich relativ schnell verflüchtigt.

II.

Natürlich ließen sich gleich zu Beginn überzeugende Gründe für das heiße Gedächtnis des Nationalsozialismus und das kalte des Kommunismus nennen. Das nationalsozialistische Regime musste in einem schrecklichen Krieg besiegt werden, den es Europa aufgezwungen hatte. Die kommunistischen Regierungen haben keinen Weltkrieg vom Zaun gebrochen (auch wenn sie lokalen Konflikten wie dem in Korea Vorschub leisteten). Darum blieben sie auch lange genug bestehen, um in eine mildere Phase übergehen zu können, die Václav Havel als Posttotalitarismus bezeichnet hat. So konnte János Kádár, der von den Sowjets installiert wurde, um den Aufstand von 1956 zu liquidieren, an der Macht bleiben und die liberalere Epoche des "Gulaschkommunismus" einleiten.

Sicherlich, auch weiterhin legen sorgfältige Forschungen die Grausamkeiten kommunistischer Herrschaft bloß, siehe etwa Stéphane Courtois' "Schwarzbuch des Kommunismus" (1997). Dennoch scheinen die Anklagen stets nach ein, zwei Jahren heftiger Debatten an Schärfe einzubüßen. Das liegt nicht etwa daran, dass die Öffentlichkeit die Fakten nicht kennte; es ist nur einfach so, dass die moralische Empörung abkühlt und die stalinistische Vergangenheit entschwindet - trotz der bitteren Erinnerungen der Opfer, des unbestrittenen Rangs der literarischen Denkmäler und trotz der ideologischen Betriebsamkeit von Neokonservativen und Altliberalen. Wir debattieren über Holocaust-Gedenkstätten und -Museen, aber kaum über Gedenkstätten für die Opfer des Stalinismus. Pilger und Touristen besuchen Auschwitz und Dachau, aber nicht Workuta oder Katyn. Professoren können immer noch Bilder von Marx, Engels, Lenin oder Mao in ihren Büros aufhängen, nicht aber von Hitler und Himmler, nicht einmal als Ausdruck postmoderner Ironie.

Nach dem Umbruch von 1989 blieb die Empörung einige Jahre virulent. Die fortgesetzten Enthüllungen über Kollaboration mit der Stasi, die tschechischen Lustrationsverfahren und die Ergebnisse der ersten Wahlen schienen geeignet, die Erinnerungen an den Kommunismus als lebendige moralische Kraftquelle zu bewahren. Aber auch diese Quellen der Empörung versiegen. Postkommunistische Parteien wie die deutsche PDS oder die "Sozialisten" in Polen, Ungarn und Rumänien werden als Konkurrenten um die Macht geduldet, während die Freiheitliche Partei Österreichs oder der französische Front National bei ihren Gegnern noch immer einen gewissen Abscheu erregen und Interventionen von seiten der Europäischen Union provozieren. Wenn dagegen eines Tages eine Koalition mit PDS-Beteiligung an die Macht käme, würde wohl kaum eine bedeutende Strömung der europäischen Öffentlichkeit Deutschland dafür mit Sanktionen belegen. Die kommunistische Vergangenheit erscheint bemerkenswert unbeschwert und besteht mit einer unglaublichen Leichtigkeit des Seins fort.

III.

Betrachten wir genauer, welche Erinnerungen heiß und welche kalt sind. Dabei geht es nicht um das Erinnern des Faschismus im allgemeinen, sondern um das Erinnern des Nationalsozialismus im Besonderen, obwohl es hier vielfältige Überschneidungen gibt und es gerechtfertigt sein kann, von einem deutschen Faschismus zu sprechen. Andere faschistische Experimente haben jedoch nicht einen solchen Grad von Abscheu erregt, auch wenn jedweder Wiederholungsversuch zu öffentlichen Demonstrationen und Zusammenstößen führen würde. Die Gründe sind in einem gewissen Maße die gleichen wie im Falle der kommunistischen Regime. Die faschistischen Regime traten in eine Phase der "Normalisierung" ein, wie sie der Nationalsozialismus nur zwischen 1936 und dem Frühjahr 1938 erlebte. Nachdem Franco seine Gegner ins Exil getrieben, ins Gefängnis geworfen oder exekutiert hatte, lebte er lange genug, um als Gegenleistung für Luftstützpunkte amerikanische Wirtschaftshilfe zu empfangen und die Monarchie zu restaurieren. Gegen Ende der zwanziger Jahre schien der italienische Faschismus seinen anfänglichen Gewaltcharakter abgelegt zu haben. Hätte der Duce sich nicht auf Hitlers Seite geschlagen, wäre "Tee bei Mussolini" vielleicht eine angemessene Beschreibung geblieben.

Der Versuch des designierten christdemokratischen Ministerpräsidenten, den neofaschistischen MSI (Movimento Sociale Italiano) in seine Koalition aufzunehmen, führte 1960 zu massiven Demonstrationen seitens der Linken und musste aufgegeben werden. Die Beteiligung der Nachfolgepartei Alleanza Nazionale an der Regierungskoalition Silvio Berlusconis nach den Wahlen vom Mai 2001 hat kaum mehr als ein paar lauwarme und politisch bedeutungslose Proteste provoziert. Die historische Erinnerung an den Faschismus hat keinen Mobilisierungseffekt mehr. Mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus verhält es sich jedoch anders.

Vielleicht geht es aber nicht einmal so sehr um die kollektive Erinnerung an den Nationalsozialismus, sondern um den Holocaust bzw. den Holocaust und die Vernichtungslager. Die Fotos und Wochenschauen von den befreiten Konzentrationslagern im Frühling des Jahres 1945, mit ihren ausgemergelten Gefangenen und ihren Leichenbergen, vermittelten visuelle Eindrücke, für die es auf kommunistischer Seite keine Entsprechung gibt.

Es stellt sich demnach die Frage, ob nicht das heiße Gedächtnis des Nationalsozialismus letztlich nur die Konsequenz der Tatsache ist, dass der Holocaust für das Gedächtnis des Jahrhunderts so zentral geworden ist, gewissermaßen als Signatur der jüngsten Geschichte. Die Politik des Völkermords hat dem Nationalsozialismus eine lange politische Halbwertzeit verschafft. Dennoch bleibt weiterhin die Frage bestehen, warum der Archipel Gulag keine ebenso tiefgehende innere Wirkung hat.

IV.

Wenn man den gezielten Terror der nazistischen Politik des Völkermords dem stochastischen Terror des Stalinismus gegenüberstellt, so handelte es sich bei letzterem um einen willkürlichen Terror, der zwar im ganzen gesehen vorhersehbar war, nicht aber für die einzelnen Opfer; keiner konnte vorhersagen, wer als nächster als Schädling oder Verschwörer entlarvt werden würde. Im Falle des Nationalsozialismus handelte es sich dagegen um gezielten Terror, weil er seine Opfer anhand eindeutig bestimmbarer Eigenschaften aussortierte: aufgrund ihrer politischen Bindungen, wenn praktiziert, und vor allem natürlich aufgrund ihrer Ethnizität, wie im Falle der Juden, die längst als fremd und parasitär gebrandmarkt worden waren. Der stochastische Terror hat eine kürzere Halbwertszeit. Es ist einzig der gezielte Terror, der ein heißes Gedächtnis hinterlässt.

V.

Schließlich gibt es noch einen weiteren Grund, der das Gedächtnis des Nationalsozialismus und des Völkermords nicht erkalten lässt: die Mittäterschaft. Die Nazivergangenheit und andere zurückliegende Völkermorde stellen jeden vor die Frage, wie er selbst gehandelt hätte. Die Frage, die stets wiederkehrt, ist nicht: Wäre ich selbst ein Nazi gewesen, oder in Ruanda einer von denen, die die Machete schwingen, oder in Bosnien Mitglied einer Todesschwadron? Die Frage ist vielmehr: Hätte ich denen gegenüber, die kamen, um zu verhaften, oder die einen Mob anführten, um zu lynchen, den Mut aufgebracht zu sagen: "Hört auf, lasst sie in Ruhe, was ihr tut, ist böse"? Die meisten von uns befürchten, wie ich glaube, dass die Antwort negativ ausfiele. Es ist diese fast universelle Frage, die das Gedenken des Nationalsozialismus aufwirft. Jede Generation kann die Erfahrung des Nationalsozialismus dazu benutzen, um sich selbst diese Frage vorzulegen. Das heiße Gedächtnis beschäftigt so viele von uns - nicht, weil wir böse sind, sondern weil unser Mut begrenzt ist.

Die kommunistische Vergangenheit brachte weniger qualvolle Gewissensprüfungen mit sich. Nur bei wenigen der früheren Kommunisten lässt sich ein Gefühl der Scham feststellen. Vielmehr scheinen sie ihren früheren Fanatismus oft als eine Art Lernerfahrung interpretieren zu wollen. Oftmals verbunden mit einem eigentümlichen Mangel an persönlicher Reue, suchen sie statt dessen die Schuld bei den Intellektuellen, die sie nicht in ihren bitteren Anklagen gegen ein System unterstützen, dem sie gedient hatten. Im allgemeinen vertreten die früheren Kommunisten ihre neue Haltung mit nicht weniger Überzeugung als ihre alte. Ihre einstige Befürwortung einer mörderischen Politik ließ sie keineswegs zu der Einsicht gelangen, jetzt sei vielleicht ein wenig Schweigen und Zurückhaltung angebracht. Die zentrale Bedeutung des Antisemitismus führte hingegen - langsam zwar, aber deutlich - zu einem hohen Maß an Scham.

Am Ende, fürchte ich, habe ich weniger vergleichende Geschichte präsentiert als vielmehr eine höchst spekulative Hypothese, die uns von der Geschichtswissenschaft zur Psychologie und zur Reflexion über Moral führt. Wie dem auch sei; wenn wir Paul RicSurs Überlegungen zu Gedächtnis und Geschichte folgen, so sollten die Historiker ihre Leser von der Melancholie zur Trauer führen, von einem Schwelgen in süßer Traurigkeit zu einer energischen Aufarbeitung des eingetretenen Verlustes. Vielleicht lassen sich meine Ausführungen als ein Beitrag zu genau dieser Anstrengung deuten.

Charles S. Maier,

Historiker, ist Direktor des Center für European Studies an der Harvard University.

Gekürzter Vorabdruck aus der Zeitschrift "Transit - Europäische Revue",

Heft 22 ("Das Gedächtnis des Jahrhunderts"; erscheint im April im Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M.)

Aus dem Englischen von Reinhard Brenneke.

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