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Am 14. Dezember jährt sich die Entdeckung des Südpols durch eine von Roald Amundsen geleitete norwegische Expedition zum hundertsten Mal. Das Datum markiert eine Zäsur.

Roald Amundsen hatte für die letzten Tagesetappen die Parole ausgegeben: "Nur nicht hetzen!“ So zog der kleine Trupp Tag für Tag seine Spur über das Eisplateau, mit stetem Seitenblick auf den Kompass, bis der Entfernungsmesser 15 Meilen anzeigte. 15 Meilen pro Tag, einen Breitengrad in vier Tagen. Man dürfe die Hunde auf keinen Fall überfordern, hatte Amundsen den Männern eingeschärft. Sie durften jetzt nicht die Beherrschung verlieren, so kurz vor dem Ziel.

Die Versuchung, zum Endspurt anzusetzen, war groß. Sieben Wochen waren die Norweger mit ihren Hundeschlitten durch die antarktische Eiswüste gereist, durch Gelände, das keines Menschen Fuß zuvor betreten hatte. Zuerst über die Ross-Barriere, ein Eisschelf von der Größe Frankreichs, bis zum Fuß der Berge. Über einen zerklüfteten Gletscher, den sie in nur vier Tagen bezwungen hatten, auf das Polarplateau. Und dann immer geradeaus über die scheinbar endlose Ebene, 3000 Meter über dem Meer. Hier gab es nur Eis und den Himmel, Himmel und Eis, sonst nichts - und die fünf Norweger mit ihren 18 Hunden, die bald als erste den südlichsten Punkt der Erde erreichen würden, wo die Erdachse durch die Erdoberfläche stieß, den geografischen Südpol.

Das Ende der Entdeckungen

Roald Amundsen und seine vier Begleiter - Olav Bjaaland, Helmer Hanssen, Sverre Hassel und Oscar Wisting - waren siegesgewiss, aber sie wussten auch, dass sie nicht die einzigen waren, die sich in diesem historischen Moment dem Südpol näherten. Eine Expedition unter Robert Falcon Scott, die wie die Norweger am Rand des antarktischen Kontinents überwintert hatte, wollte am Pol die britische Fahne aufpflanzen. Und so blickten die Norweger angespannt nach Süden, ob sich in dem weißen Nichts nicht doch irgendetwas abzeichnete, ein im Wind flatternder Union Jack etwa oder ein britischer Schlittentreck … Je näher sie dem Ziel kamen, desto mehr wuchs die Spannung. Amundsen selbst litt am meisten. Seine Gefährten merkten es daran, dass der Chef noch unausstehlicher war als sonst. Aber er blieb unerbittlich: 15 Meilen pro Tag, keinen Schritt weiter! Denn Amundsen wusste, dass es für sie nicht nur darauf ankam, als erste den Pol zu erreichen. Sie mussten auch lebend heimkehren und durften daher ihre Kräfte nicht verausgaben.

Am 14. Dezember 1911 war es so weit: Die lange Reihe von 15-Meilen-Etappen würde sich endlich zu 90° Süd aufsummieren. Die anderen ließen Amundsen den Vortritt. Einsam stapfte er auf seinen Skiern voraus, bis gegen drei Uhr Nachmittag aus mehreren Kehlen der Ruf "Halt!“ erscholl. Glaubt man Amundsens Tagebuch, dann spiegelte sein Inneres in diesem Augenblick die Leere der Landschaft. Den Nordpol zu erobern war sein Jugendtraum gewesen. Das Gegenteil hatte er erreicht: Er stand am Südpol …

Aber nicht genau am Südpol. Mit Kompass und Entfernungsmesser ließ sich die Position nur vage bestimmen. Erst die Beobachtung der Sonne, die Tag und Nacht den Horizont umkreiste, erbrachte eine präzisere Verortung. Die Norweger schlugen ihr Zelt auf, maßen den Sonnenstand mit dem Sextanten, verlagerten ihren Standort nach der Messung, beobachteten dort die Sonne über 24 Stunden und änderten dann nochmals ihre Position, bis sie sicher waren, dem Pol so nahe gekommen zu sein wie irgend möglich. Als mehr als einen Monat später, am 17. Januar 1912, die Briten eintrafen, fanden sie die Fahne der Norweger und ein Zelt, das diese dagelassen hatten. So lieferten sie den Beweis, dass Amundsens Team den Pol tatsächlich erreicht hatte. Das Zeitalter der Entdeckungen war zu Ende.

Die Erfindung der Boulevard-Zeitung

Nicht dass es seither nichts mehr zu entdecken gäbe. Und doch bedeuten die Expeditionen, die Scott und Amundsen vor hundert Jahren zum Südpol führten, eine historische Zäsur. Im 15. Jahrhundert hatten die Europäer damit begonnen, die Erde systematisch zu erkunden und zu erobern. Ende des 19. Jahrhunderts trotzten nur noch die Pole ihrem Entdeckergeist. Eisige Kälte, monatelange Dunkelheit und der Mangel an Nahrung machten die Erforschung der Polargebiete zu einer fast unlösbaren Aufgabe - abgesehen davon, dass es dort nicht viel zu holen gab außer Ruhm und Ehre und erfrorene Füße. Genau das aber erwies sich im Zeitalter eines übersteigerten Nationalismus als hochwirksames Motiv, viel stärker als wissenschaftliche Interessen. Dazu trug nicht zuletzt die Presse bei, die damals ihre Goldene Ära erlebte. 1894 erfand der britische Verleger Alfred Harmsworth - übrigens selbst Sponsor einer Arktisexpedition - den Daily Mail und damit die Boulevard-Zeitung. Erstmals bildete sich eine Weltöffentlichkeit aus, die auch die Massen erfasste. Die Presse erhob die Anführer der großen Expeditionen zu Heroen der Moderne und die Entdeckung der Pole zum Wettlauf der Nationen.

Der Nordpol galt seit 1909 als entdeckt, nachdem die Amerikaner Cook und Peary beide behauptet hatten, dort gewesen zu sein. Ihre Ansprüche gelten heute als zweifelhaft, doch sie vereitelten Amundsens Pläne, der seinen Ehrgeiz nun heimlich auf den Südpol lenkte. Den zu erreichen, hatte wiederum Scott öffentlich erklärt. Dass er ernstzunehmende Konkurrenz erhalten hatte, erfuhr der Brite erst, als er schon im Eis war.

Eine verdammt gute Geschichte

Am Ende gewann nicht das mächtige britische Weltreich, sondern das kleine Norwegen, das erst 1905 ein unabhängiger Staat geworden war. Amundsen machte das Rennen dank seiner überlegenen Strategie - vor allem weil er konsequent auf Hunde als Zugtiere setzte statt wie Scott auf Ponys und Menschen - und einer gehörigen Portion Glück. Doch er hatte nur ein Jahr, um sich in seinem Ruhm zu sonnen. Als die "Terra Nova“, das Schiff der britischen Expedition, im April 1913 mit einem Jahr Verspätung aus der Antarktis zurückkehrte, brachte sie die Sensationsmeldung mit, dass Captain Scott mit vier Gefährten auf dem Rückmarsch vom Pol erfroren war. Man hatte seinen Leichnam und sein Tagebuch gefunden, und darin standen Worte, die nicht nur das Herz eines jeden Briten, sondern die ganze Welt rührten: "Wir sind schwach, Schreiben ist schwierig, aber um meinetwillen bereue ich diese Reise nicht, die gezeigt hat, dass Engländer Mühsal aushalten, einander helfen und dem Tod so tapfer entgegengehen können wie je zuvor in der Vergangenheit …“

Solches Heldentum erscheint hundert Jahre und zwei Weltkriege später als obsolet. Die Polarforschung ist heute keine Spielwiese für Helden, sondern ein hoch technisiertes Feld für Spezialisten. Die Sorge von uns Daheimgebliebenen gilt auch nicht mehr den Forschern, die ins "ewige“ Eis fahren, sondern dem Eis selbst, das von Jahr zu Jahr weniger wird. Warum also diese Geschichte heute noch erzählen? Weil es eine "Sternstunde der Menschheit“ war, wie Stefan Zweig gemeint hat?

Es ist jedenfalls eine Geschichte von mythischer Qualität, nicht im Sinne eines erbaulichen, Gemeinschaft stiftenden Heldenmythos, sondern so, wie wir heute die großen Mythen lesen: als Geschichten, aus denen der Mensch etwas über sich selbst erfährt, über sein unendliches Streben und dessen Begrenzung. Das ist der Grund, warum es lohnt, sich die Geschichte von der Entdeckung des Südpols zu vergegenwärtigen und sie immer neu zu erzählen. Vor allem aber auch deshalb, weil es eine verdammt gute Geschichte ist.

Das Eis und der Tod

Scott, Amundsen und das Drama am Südpol

Von Christian Jostmann, Beck 2011, 230 Seiten, geb., € 20,60

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