Hofiert und geschmäht

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Marcel Reich-Ranicki wird am 2. Juni 80 Jahre alt: Bahnbrecher eines unbeliebten Metiers.

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Marcel Reich-Ranicki wird am 2. Juni 80 Jahre alt: Bahnbrecher eines unbeliebten Metiers.

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Die Halbberühmten buckerln vor ihm und zerreißen sich das Maul hinter seinem Rücken, nicht selten in unflätiger Weise. Die Unbekannten, Berühmten in spe, entwickeln Strategien, wie sie Marcel Reich-Ranicki auffallen könnten, ersinnen Pläne, seinen Blick zu erhaschen. Die Berühmten waren oft seine Freunde, ehe sie seine Feinde wurden. Sie waren seine Freunde, solang er sie lobte oder wenigstens nicht verriß. Tat er dies, meist mit nur zu guten Gründen, wurden sie seine Feinde, mitunter aus nichtigem Anlaß. Günter Grass kann den Namen Reich-Ranicki nicht mehr hören. Leider kann man schwer umhin, den In-Grund-und-Boden-Verriß von Grassens Roman "Ein weites Feld" gerecht zu finden. Wenigstens dem Inhalt nach. Im Ton ist Marcel Reich-Ranicki oft hart, mitunter überhart, und wenn er witzig ist, und witzig kann er sein, ergötzen sich die Leser, und die Opfer kochen. Dafür ist aber auch sein Lob eine harte Währung.

Keiner hat aus der Entwicklung der deutschen Mediengesellschaft so radikal die Konsequenzen für sein Metier gezogen wie Reich-Ranicki, der am 2. Juni 80 Jahre alt wird. Der Mann, dessen Kritiken man nicht nur wegen der Treffsicherheit seiner Urteile, sondern auch wegen ihrer sprachlichen Brillanz schätzte, mutierte zum Fernsehstar. Seine geschriebenen Ablehnungen hätte ein Dissertant in den Mittelpunkt einer Doktorarbeit über den Verriß als Sprachkunstwerk stellen können. Dabei hat er oft gelobt, oft nur mit halber Überzeugung, wie er in seiner Autobiographie bekannte, aber Lobeshymnen prägen sich halt nicht so ein, wie jeder weiß. Nicht einmal jenen, denen sie gelten. Selbst zu wiederholten Malen von Reich-Ranicki gelobte Dichter hatten beim ersten Verriß aus seiner Feder Schaum vorm Mund. Die Leser schwärmen noch nach Jahren von einer funkelnden Dichterdemontage. Von Hymnen selten.

Nach seinem Abgang aus der "Frankfurter Allgemeinen" kreierte Marcel Reich-Ranicki das "Literarische Quartett" im ZDF und FS2. Stilisierte sich da geradezu genial zu einer Mischung von bösem Krokodil und weisem Raben. Man kann nur hoffen, daß uns diese Sendung erhalten bleibt. Soviel Pfiff, soviel Witz hat keine andere Kultursendung in deutschen Landen, und auf die Urteile letzter Instanz, mit denen er Sigrid Löffler, Helmut Karasek und einem wechselnden Gast, sofern der überhaupt zu Worte kam, selbiges abschneidet, kann man sich meistens verlassen. Reich-Ranicki spricht stets Urteile letzter Instanz. Ärgerlich für viele, sehr ärgerlich. Besonders ärgerlich, daß sie meistens stimmen.

Doch nicht länger kann sich Marcel Reich-Ranicki in seiner Unbeliebtheit sonnen. Er hielt sich so lange für den Abgelehnten, den Außenseiter, bis seine Autobiographie "Mein Leben" erschien. Das Buch wurde ein derartiger Verkaufserfolg, daß es einfach nicht länger geleugnet werden kann: Das Lesepublikum hat ihn ins Herz geschlossen. Bleibt nur die Frage: Hat sich Reich-Ranicki ins Herz des Publikums hineingelobt oder hineingeschimpft? Wo hat er mehr Freunde, bei denen, die Grass nicht mögen, oder jenen, die Goethe so verehren wie er? Oder ist der Erfolg von "Mein Leben" einfach darauf zurückzuführen, daß dieses Buch glänzend geschrieben und voll von Reflexionen ist, bei denen man dem Autor mit Interesse folgt, auch wenn man nicht immer seiner Meinung ist?

Ein Buch voll köstlicher Beobachtungen über die Eitelkeit der Autoren ist es auch. Wer von Reich-Ranicki erfahren hat, wie eitel Canetti war, liest dessen "Komödie der Eitelkeit" gleich ganz anders. "Mein Leben" ist auch deshalb wichtig, weil Irrtümer über Reich-Ranickis Leben ausgeräumt werden. Er ist kein Pole, der nach Deutschland kam, um den Deutschen zu erklären, was deutsche Literatur ist (was ja übrigens auch legitim wäre), sondern ein in Berlin geborener deutscher Jude, der mit der Liebe zur deutschen Literatur aufwuchs, nach Polen deportiert wurde und der unter Umständen überlebte, die den Österreichern und den Deutschen nicht oft genug erzählt werden können. Auch die blödsinnige Abwertung des Kritikers mit dem Argument, er könne das nicht, worüber er urteile, ist jetzt nicht mehr verwendbar. Er kann nicht nur schreiben, woran kein Zweifel bestand - er ist auch ein exzellenter Erzähler.

Nun erschien auch die Ergänzung zur Autobiographie: Reich-Ranickis Leben in Bildern. Wie durch ein Wunder konnte er ein paar Fotos, eigene Kinderbilder, Bilder der ermordeten Eltern, ins Ghetto, aus dem Ghetto, von Versteck zu Versteck retten. Nun sehen wir den Menschen, die uns in "Mein Leben" begegneten, ins Gesicht. Vor allem aber Reich-Ranicki, dem jungen, dem reifen, dem alternden Mann. Ein Mann, ein Gesicht, ein Werdeprozeß. Das Gesicht des 30jährigen ist ein scharf geschnittenes, intellektuelles, sehr waches und fragendes Gesicht. Wir erfahren auch einiges, was in "Mein Leben" nur angedeutet wird: Zum Beispiel die Weigerung, den Deutschen den Bittsteller, den anpassungsbereiten, um Akzeptanz werbenden Emigrations-Rückkehrer vorzuspielen. Mit seinem selbstbewußten Auftreten wurde Marcel Reich-Ranicki da und dort zum Prüfstein, was von den wohlbekannten deutschen Nachkriegsphrasen der "reuigen Deutschen" zu halten war. Die Redaktion der "Zeit", für die Reich-Ranicki einst schrieb, hat bei diesem Test ziemlich schmählich abgeschnitten.

Bleiben noch die beiden Kassetten zu empfehlen, auf denen Reich-Ranicki selbst aus seinem Buch liest: Ein Hör-Erlebnis, welches das Gelesene vertieft. Über die Texte lesenden Schauspieler mag man denken, wie man will - der vorlesende Autor eröffnet uns immer eine verborgen gebliebene Dimension dessen, was wir schon zu kennen meinen.

Mein Leben. Von Marcel Reich-Ranicki. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999. 568 Seiten, Ln., öS 363,- / E 26,38 Marcel Reich-Ranicki - Sein Leben in Bildern. Herausgeber: Frank Schirrmacher. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2000. 288 Seiten, Ln., öS 364,/E 26,45 Mein Leben. Von Marcel Reich-Ranicki, gelesen von Marcel Reich-Ranicki . 2 Cassetten. Audio Books, Der Hör Verlag, München 1999, öS 239,- / E 17,37

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