"Humaner Krieg" - eine Illusion

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43 Wissenschaftler äußersten sich über Kriegsverbrechen und über die Versuche, menschlichere Kriege zu führen.

Das 20. Jahrhundert wird wohl als jenes in die Geschichte eingehen, in dem alles übertroffen wurde, was es an systematischen, wohl überlegten Massenmorden in der Geschichte gegeben hatte. Massaker an Kriegsopfern fanden seit jeher statt, doch selten mit offiziell rassistischer Begründung. Wolfram Wette und Gerd R. Ueberschär haben sich anlässlich des 75. Geburtstags des Militärhistorikers Manfred Messerschmidt mit "Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert" an ein schwieriges Thema heran gewagt.

43 Wissenschaftler arbeiteten an einer Sammlung von Aufsätzen mit, die von grundsätzlichen Überlegungen zur Frage des Kriegsverbrechens über die Untersuchung konkreter Fälle bis zur Rechtslage vor und nach dem Zweiten Weltkrieg reichen.

Bereits im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es, nicht zuletzt in Nachfolge der Erklärung der Menschenrechte nach der Französischen Revolution, Bemühungen, den Krieg zwischen den europäischen Nationen "menschlicher" zu gestalten. Vor allem sollte die Zivilbevölkerung geschont werden. Unter dem Banner des Nationalismus teilten aber gleichzeitig die Kolonialmächte die Welt unter sich auf. Graf Gobineau, Houston Stewart Chamberlain und ihre Nachfolger lieferten die Thesen des modernen Rassismus als moralische Rechtfertigung für den Herrschaftsanspruch der Europäer über die "minderwertigen Rassen".

Die Doktrin war neu, doch weder die Haltung noch die Praxis. In der Geschichte wurden immer wieder Völker ausgerottet. Doch der moderne Rassismus war gewissermaßen die negative Gegenkraft des modernen Humanismus. Die mörderische Anwendung der These vom verschiedenen Wert der Rassen beschränkte sich vorerst auf die Bevölkerungen der Kolonien beziehungsweise auf Länder wie die Türkei, die bei ihrer "Modernisierung" nicht die demokratischen, sondern die nationalistischen Thesen übernahm und wenig später im ersten modernen Genozid versuchte, eine Nation auszulöschen: die Armenier. Ein Sperrriegel zwischen der Türkei und den asiatischen Turkvölkern, bildeten sie ein Hindernis für das erträumte großtürkische Weltreich.

Unklarheit über diese Hintergründe führt manchmal zur Vermischung von Kategorien. Im Bericht von Wolfgang U. Eckart über die deutschen Gräuel in Südwestafrika werden die Massaker als Vorbereitung zur späteren Entwicklung des deutschen Rassismus gedeutet, obwohl es nicht mehr und nicht weniger als ein typischer Kolonialkrieg war, wie er von allen Kolonialmächten geführt wurde. Man erinnere sich nur an die rund 40.000 Algerier, die am 8. März 1945, oder die über 60.000 aufständischen Madegassen, die am 30. Mai 1947 unter einer demokratischen französischen Regierung massakriert wurden.

Die rassistischen Massaker in Südwestafrika, Algerien oder Madagaskar waren keine Folge besonderer nationaler Bösartigkeit, sondern allgegenwärtige kolonialistische Realität. Ähnliches gilt auch für die japanischen Verbrechen in China. Zwar erreichte der moderne Humanismus, der Humanismus der Aufklärung, Japan bereits am Ende des 19. Jahrhunderts, doch damit hatte sich das Prinzip auch in Asien noch lange nicht allgemein durchgesetzt.

Verbrechen als System

Erinnert sei an die 80.000 Gewerkschafter und Kommunisten, die 1927 von Tschiang Kai-schek bei der Unterwerfung Schanghais, an die rund 500.000 indonesischen Linken, die 1965 von General Suharto bei seinem Putsch und an die 1,5 Millionen Gegner aller Richtungen, die vom Kommunisten Pol Pot in Kambodscha ermordet wurden. Doch auch im Westen und in der Sowjetunion wurden, allen Lippenbekenntnissen zum Humanismus zum Trotz, Menschenleben und Menschenrechte im 20. Jahrhundert immer wieder brutal missachtet.

So schrecklich sie sich in der konkreten Situation für die Opfer auswirken mag, man darf all diese Spielarten der Unmenschlichkeit nicht mit dem modernen Rassismus verwechseln. Er war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überall auf dem Vormarsch, doch nur in Deutschland gelang ihm die Übernahme der Macht. Den anderen Faschismen, daran sei erinnert, fehlte die rassistische Komponente oder sie war viel schwächer ausgeprägt.

Dem entsprechend stammen die meisten Beiträge des Buches von deutschen Autoren. Schließlich war Nazideutschland das Land, in dem Kriegsverbrechen nicht einfach örtliche, isolierte Verletzungen der internationalen Abkommen darstellten, sondern System, ideologisch begründete, von der Führung vorgegebene Politik. Das hat aber nichts mit dem spezifischen deutschen Charakter zu tun. Die Niederlage der nationalsozialistischen Ideologie hat in Deutschland auch mehr als in anderen Staaten zu einer tief greifenden Besinnung geführt und damit auch zu Büchern wie jenem, von dem hier die Rede ist. Damit wird auch die bahnbrechende Arbeit des Militärhistorikers Manfred Messerschmidt gewürdigt, des Begründers einer kritischen Militärgeschichte, wie Ralph Giordano feststellt.

Konkrete Massaker gab es viele zu untersuchen, nicht zuletzt solche der Wehrmacht, wobei im Verlauf des Krieges nationalsozialistische Wehrmacht-Offiziere die volle Kontrolle darüber übernahmen. Faszinierend dann die Dokumentation der Beiträge, etwa von Wolfram Wette über die Massaker von Babij Yar bei Kiew.

Die Nazis betonten auch intern stets, dass ihre Taten nichts mit Unmenschlichkeit, Grausamkeit oder Mordlust zu tun hätten. Die verschiedenen "Endlösungen" den Juden, Zigeunern oder Slawen gegenüber seien kalte chirurgische Schnitte zum Durchsetzen des weltanschaulich definierten "Guten" gegen das allgegenwärtige "Böse". Konkret wurden aber offenbar bei vielen Gelegenheiten alle Schleusen der Mordlust auch bei Soldaten der Wehrmacht geöffnet, wenn Einheiten etwa beim Durchzug durch Lemberg kurz Halt machten, um ein bisschen mit der SS mitzumassakrieren.

Autoren wie der Israeli Jehuda Wallach und der Deutsche Jost Dülffer sowie die Kanadier Lemay und Létourneau konzentrieren sich auf rechtliche Fragen im Vorfeld des Ersten Weltkrieges. Denn im Bemühen, zumindest in Europa Krieg so zu führen, dass die Zivilbevölkerung möglichst wenig betroffen wurde, kam es ab der Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder zu Versuchen, das Verhalten des Menschen im Krieg rechtlich zu reglementieren. Auf den Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 kam es schließlich zur Haager Landkriegsordnung, die an den Schrecken des folgenden Krieges aber wenig änderte. 1928 wurde der sogenannte Briand-Kellogg-Pakt unterzeichnet, mit dem die Lehren aus dem Ersten Weltkrieg gezogen und Kriege überhaupt abgeschafft werden sollten. Mit den unter faschistische oder nazistische Führung geratenden Staaten rechnete man dabei noch nicht.

"No" vom Pentagon

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die UNO auf einer neuen Basis gegründet, um die Fehler des Völkerbundes zu vermeiden. Lang nach den Nürnberger Prozessen wird heute wieder versucht, Kriegsverbrechen zu ahnden, wobei der Haager Internationale Gerichtshof eine wichtige Rolle spielt. Jan Reemtsma diskutiert in seinem Beitrag das Für und Wider eines internationalen Gerichtshofes. Die Widerstände sind jedoch überall groß.

Das Pentagon soll sich kompromisslos gegen die Unterzeichnung des Vertrages durch die US-Regierung stellen. In Frankreich zählte Anfang 2001 General Paul Aussaresses in einem Buch stolz die Opfer auf, die er im Algerienkrieg persönlich gefoltert und getötet und jene, die er an seine Untergebenen zur "Behandlung" weiter gereicht hatte. Das sei alles aus Patriotismus in Verteidigung des Vaterlandes geschehen, meint er. Das demokratische Frankreich ist empört - viele nicht wegen der Fakten, sondern weil er auspackte.

Der außerordentlich aufschlussreiche Beitrag von Martin Kutz über die soziokulturellen Aspekte der Radikalisierung des Krieges und über die Kriegsverbrechen in der deutschen Kriegführung könnte mit veränderten Namen und Umständen auch für die anderen Großmächte unserer Zeit geschrieben sein. Was die Deutschen den anderen voraus hatten, war allerdings der innenpolitische Sieg der rassistischen Ideologie. Sie waren eben auch Musterschüler der Unmenschlichkeit in der Welt des Faschismus.

KRIEGSVERBRECHEN IM 20. JAHRHUNDERT. Herausgeber: Wolfram Wette und R. Ueberschär.

Primus Verlag, Darmstadt 2001

589 Seiten, Ln., öS 715,-/e 51,96

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