Ich dachte, ich würde jubeln

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Ich begehe mein privates Gedankenjahr. Um drei Uhr früh verließen wir den niederösterreichischen Bauernhof. Ein Wehrmachtsauto brachte uns nach Pöchlarn, ein Schiff bis Obernzell. Zwischen Schärding und Ried kamen wir in einen Tieffliegerangriff, das Auto hinter uns brannte aus, meiner Großmutter wurde der Oberarm durchschossen. Das war am 25. April, die Russen hatten Wien bereits befreit. Am Abend um halb zehn standen wir vor einer Villa am Ortseingang von Ried - unsere Mutter mit dem Bruder im Kinderwagen, meine Schwester mit 13 Jahren; ich war gerade acht geworden. Wir wurden aufgenommen und blieben, bis die Amerikaner die Villa beschlagnahmten. Am 8. Mai schrieb meine Mutter ins Tagebuch: "Es ist Frieden, kein Krieg mehr. Ich dachte einst, wir würden jubeln und jetzt schnürt einen die Angst um alle Lieben ganz ein." Erst Monate später Nachricht von unserem Vater, die Großmutter war inzwischen gestorben, zwei Brüder der Mutter kamen aus der Gefangenschaft zurück, der Bruder des Vaters nicht mehr.

Eine kurze Flucht, die Kleinfamilie unbeschädigt, die Wiener Wohnung von Bomben verschont. 1945 gab es ganz andere, furchtbare, tödliche Schicksale. Aber sogar die kurze Flucht, der beinahe glimpfliche Ausgang hatte Folgen. Die Angst hatte unsere Mutter verändert, der Krieg hatte ihre spät heimgekehrten Brüder für immer verstört.

"Ich dachte, wir würden jubeln." Mein privates Gedankenjahr gedenkt des eingeschnürten Herzens unserer Mutter. Und wundert sich über Terroristen und Militärs im Sudan, im Irak oder sonst wo, die immer noch glauben, irgendjemand würde jubeln, wenn es einmal vorbei ist. Vertriebene, Befreite und Besiegte leiden zeitlebens. Nicht einmal die Sieger kehren unbeschädigt heim. Wer wird sie befreien, ehe sie alle am Herztod sterben?

Der Autor ist freier Journalist.

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