"Ich hätte lieber unrecht gehabt"

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Der deutsche Linkspolitiker Gregor Gysi über sein Elternhaus, die Rolle der Kirchen, die Folgen der Finanzkrise und darüber, warum er die Kategorien von "links" und "rechts" nicht für obsolet hält.

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Der deutsche Linkspolitiker Gregor Gysi über sein Elternhaus, die Rolle der Kirchen, die Folgen der Finanzkrise und darüber, warum er die Kategorien von "links" und "rechts" nicht für obsolet hält.

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Er gilt als Enfant terrible der deutschen Politik: der frühere linke Spitzenpolitiker Gregor Gysi. Nachdem er die Finanz-und Schuldenkrise vor zehn Jahren vorausgesagt hatte, wurde er von manchen Medien als "Prophet" bezeichnet. Zuletzt warnte der erklärte Atheist vor einer "gottlosen Gesellschaft".

DIE FURCHE: Herr Gysi, mit Ihrer Warnung vor einer "gottlosen Gesellschaft" haben Sie viele Menschen -Gläubige wie Ungläubige -aufgeschreckt und verunsichert. Wie kommen Sie zu der Einsicht, dass unsere Gesellschaft eine Art religiöses Fundament braucht?

Gregor Gysi: Es geht dabei weniger um ein religiöses Fundament, sondern eher darum, dass zur Zeit nur die Religionen - trotz der Fehler und Beschränktheiten der Kirchen -grundlegende Moral-und Wertvorstellungen allgemeinverbindlich in der Gesellschaft prägen können. Die Linke als gesellschaftliche Kraft hat die Möglichkeit, Moralnormen aufzustellen und solche Normen allgemeinverbindlich zu gestalten mit der Art und Weise, wie der real existierende Sozialismus organisiert wurde, für längere Zeit verwirkt. Die Rechte ordnet zumindest tendenziell Wertvorstellungen dem Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft unter. Der Markt aber kann keine Moral-und Wertvorstellungen hervorbringen.

DIE FURCHE: Sie sind 1948 in Berlin geboren und in der DDR aufgewachsen. Ihre Eltern waren bereits im Zweiten Weltkrieg Mitglieder der Kommunistischen Partei Deutschlands und als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus aktiv. Wie hat Sie das Erbe Ihrer Eltern und Ihr Aufwachsen in der DDR geistig, vielleicht gar spirituell geprägt?

Gysi: Spirituell war mein Elternhaus nicht, aber doch sehr inspirierend. Meine Eltern hatten häufig Gäste aus dem Westen, sodass sich mein Horizont von Kindheit an nicht auf die DDR beschränkte. Dazu gehörte auch, dass mein Vater als Staatssekretär für Kirchenfragen und Botschafter in Italien mit den Kirchen im Gespräch war, so dass mir kirchliche, religiöse Sichtweisen immer wieder begegneten.

DIE FURCHE: Der österreichische SP-Politiker Josef Cap hat Papst Franziskus vor kurzem einen Bündnispartner der Sozialdemokraten genannt. Was sehen Sie in Papst Franziskus und was erwarten Sie sich von ihm?

Gysi: Bei allem, was es in Bezug auf Sexualmoral, Verhältnis zur Homosexualität und Umgang mit den Missbrauchsfällen an Inkonsequenzen bei Papst Franziskus auch zu kritisieren gibt, ist er mit seinen immer wieder geäußerten Positionen zum Frieden und seiner Bedrohung und zu den sozialen und ökologischen Folgen kapitalistischen Wirtschaftens ein wichtiger Impulsgeber für die gesellschaftliche Entwicklung. Ich muss ihn häufig gegenüber Katholiken verteidigen.

DIE FURCHE: Anlässlich des Finanzdebakels in Griechenland und der Finanzkrise nach 2008 betitelten Sie einige Medien mit "Der Prophet" - das alles 20 Jahre nach Ihrer Rede im Deutschen Bundestag, in der Sie vor diesen Entwicklungen gewarnt haben. Sehen Sie sich selbst als Propheten?

Gysi: Ich hätte, ehrlich gesagt, lieber unrecht gehabt, weil Millionen Menschen vor allem im europäischen Süden die Folgen dieser unzureichend vorbereiteten, schlecht gemanagten und politisch einseitig gestalteten Euro-Einführung mit einem beispiellosen sozialen Niedergang zu spüren bekamen und bekommen. Es ist mir auch aus heutiger Sicht unverständlich, dass dies billigend in Kauf genommen worden ist, obwohl die Entwicklung angesichts der Festlegungen in der EU auf der Hand lag.

DIE FURCHE: Die alten Propheten in der Bibel wurden vom Volk oft ignoriert, verspottet und davongejagt. Haben Sie auch Ablehnung und Ausgrenzung erfahren?

Gysi: Besonders in der ersten Hälfte der 1990er Jahre schlug mir vielerorts regelrechter Hass entgegen. Ich habe damals beschlossen, nicht zurück zu hassen.

DIE FURCHE: Wer war und ist für Sie ein positiv besetzter "Prophet" unserer Zeit -und wer eher ein "Untergangsprophet"?

Gysi: Als positiven Propheten würde ich Nelson Mandela bezeichnen -auf der anderen Seite: Donald Trump.

DIE FURCHE: Egal ob Sozialdemokratie oder gemäßigte Sozialisten: die Linke ist in den meisten Ländern Europas in die Defensive geraten. Ist eine linke Bewegung in unserer Zeit womöglich obsolet geworden?

Gysi: Im Gegenteil. Gerade angesichts der Rechtsentwicklung in vielen Ländern ist eine Linke, die sich als Gegenüber zu Rechtsaußen begreift und handelt, nötiger denn je. Weder die durch die neoliberale Globalisierung für Millionen, wenn nicht gar Milliarden Menschen existenzielle soziale noch die ökologische Frage und schon gar nicht die Frage, ob unsere Welt in immer neuen und immer mehr kriegerischen Auseinandersetzungen versinkt, lassen sich mit dem extremen nationalen Egoismus à la Trump, Orbán oder Strache beantworten. Allerdings, die Linke hat historisch versagt.

DIE FURCHE: Denken Sie, dass die politische Einteilung in "links" und "rechts" noch zeitgemäß ist?

Gysi: Dass dies nicht mehr zeitgemäß sei, wird vor allem von jenen behauptet, die zu den Profiteuren der neoliberalen Globalisierung gehören. Es ist sicher so, dass die Zeit der großen Volksparteien zu Ende geht und sich ein Spektrum von mehreren Parteien herausbildet, die die Interessen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen vertreten. Aber auch die Antworten dieser Parteien auf die gesellschaftlichen Herausforderungen passen in ein Links-Rechts-Schema mit der notwendigen Differenzierung.

DIE FURCHE: Laut den Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung sind Anhänger der AfD und der "Linken" verärgerter, sorgenvoller und unzufriedener als jene der politischen Mitte. Buhlen Sie mit der AfD nicht um dieselbe Wählerschaft? Und beißt sich hier die Katze nicht in den Schweif, wenn "links" und "rechts" zusammenkommen und sich der Kreis sozusagen schließt?

Gysi: Bei den letzten Wahlen haben vor allem CDU/CSU und SPD an die AfD Wählerstimmen verloren. Die entscheidende Frage ist ja nicht, um welche Wählerschaft man ringt, sondern mit welchen Antworten man dies tut. Da gibt es zwischen der AfD und der "Linken" für mich keinerlei Überschneidungen, da trifft sich nichts.

DIE FURCHE: Sahra Wagenknecht, Fraktionsobfrau der "Linken", versucht jetzt mit einer neuen Sammelbewegung namens "#aufstehen" eine Lanze für eine links-liberale Politik zu brechen. Ihre Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger sind gegen dieses Bündnis - und Sie auch. Einige SPD-Vertreter üben ebenfalls scharfe Kritik an Wagenknechts Bewegung. Warum sind Sie gegen diese Bewegung? Und was braucht es stattdessen?

Gysi: Es ist immer gut, wenn Bewegung in die politische Landschaft kommt und Menschen sich politisch engagieren. Das zeigen in Deutschland breite Bündnisse gegen die Verschärfung von Polizeigesetzen, für bezahlbaren Wohnraum, gegen das Abholzen von Wäldern für den Braunkohleabbau oder für die Unteilbarkeit der Menschenrechte. Dafür sind Hunderttausende auf die Straße gegangen. "#aufstehen" ist eher von oben gegründet worden, hat ein Programm wie eine Partei und den Anspruch, Kandidatinnen und Kandidaten auf den Wahllisten anderer Parteien zu platzieren, denen aber gleichzeitig abgesprochen wird, ihre Aufgabe gut zu erfüllen. Das passt nicht zusammen. Was es bräuchte, wäre eine Bewegung für eine starke Linke, weil nur dann wirklicher Druck für eine politische Mehrheit eines Mitte-Links-Bündnisses entstünde.

Norbert Oberndorfer arbeitet als freier Journalist und Medienmanager in Wien

ZUR PERSON

" aber ich fürchte eine gottlose Gesellschaft"

Gregor Gysi ist ein ehemaliger Spitzenpolitiker der deutschen Partei "Die Linke" (vormals SED-Nachfolgepartei PDS) und aktueller Fraktionsvorsitzender der Europäischen Linken. Mit seinem Sager "Ich glaube zwar nicht an den da oben, aber ich fürchte eine gottlose Gesellschaft" in der ZDF-Diskussionssendung Markus Lanz im Jahr 2017 ließ er Gläubige und Nichtgläubige aufhorchen. Als deutscher Bundestagsabgeordneter hat Gysi 1998 in seiner Rede "Ein Kontinent ist nicht über das Geld zu einen" vor negativen Folgen einer Euro-Einführung und vor einer übereilten Währungsunion gewarnt. Damals gehörte er mit der Ablehnung des Euro ohne ausreichende politische und wirtschaftliche Integration zu einer Minderheit im Deutschen Bundestag. Vieles aus seiner damaligen Rede ist Jahre später bis ins Detail so eingetroffen, wie zum Beispiel die Euro-Krise 2008 oder die Staatsschuldenkrise in Griechenland 2010. (n. o.)

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