"Ich mache ein Loch und gehe hindurch"

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Mit der Zuerkennung des Friedenspreises 2008 an Anselm Kiefer wurde ein so provokantes wie spannendes Signal gesetzt.

Ein aufgeschlagenes Buch - fast sechzig Seiten stark. Nicht aus Papier, sondern aus Blei. Auf den graubraunen Seiten finden sich keine Buchstaben. Stattdessen Haare. Schwarze, echte Strähnen und Locken - teilweise von Asche bedeckt. Auch wenn dieses beinahe ein Meter hohe Buchobjekt keine Wörter enthält, erzählt es eine Geschichte. Es erweckt in Kombination mit dem Titel "Sulamith", der sich auf die Gestalt der Jüdin in Paul Celans Gedicht "Todesfuge" (1945) bezieht, grauenhafte Assoziationen. Die lose auf den Seiten verteilten Spuren menschlichen Lebens wirken auf den Bleiseiten bedrückend - erinnern an Reliquien. Wird hier auf das menschenverachtende Kahlscheren in Konzentrationslagern angespielt? Auf die Diskriminierung jüdischer Frauen in der NS-Zeit aufgrund ihrer dunklen Haarfarbe? Gut möglich, wenn man das Gesamtwerk von Anselm Kiefer mit einbezieht, der dieses Buch 1990 kreierte.

Sinnliche Gedächtniskultur

Kiefer hat sich als einer der ersten bildenden Künstler Deutschlands bereits Ende der 1960er Jahre mit den Möglichkeiten der Trauer- und Erinnerungsarbeit auseinandergesetzt. Dabei arbeitete er stets mit Mitteln der bildenden Kunst - mit Farbe, Holz, Leinwand, mit Linien und Flächen. Zugleich wollte er immer auch Erzähler sein, so Kiefer: "Ich denke vertikal, und eine der Ebenen war der Faschismus. Doch ich sehe alle diese Schichten. Ich erzähle in meinen Bildern Geschichten, um zu zeigen, was hinter der Geschichte ist. Ich mache ein Loch und gehe hindurch."

In den letzten vierzig Jahren schuf Anselm Kiefer eine vielschichtige, sinnlich-materialhafte Gedächtniskultur, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit der Problematik der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands befasst. In Form von Installationen, Bildern, Grafiken, Foto- und Buchobjekten spürt er den kulturellen und ideologischen Wurzeln des Nationalsozialismus nach. Zugleich reflektiert er die politischen und mentalen Konsequenzen des Gräuelregimes für die Nachkriegsgesellschaft. "Meine Biografie ist die Biografie Deutschlands", meinte Kiefer einmal.

Selbstporträt mit Hitlergruß

Dennoch war die Sensation perfekt, als der Malerstar vorige Woche zum Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 2008 auserkoren wurde. Das deutsche Feuilleton überschlug sich mit Kommentaren pro oder kontra Kiefer. Überraschend war, dass erstmals einem bildenden Künstler die mit der Preissumme von 25.000 Euro verbundene Auszeichnung zuteil wird. Bisher zählten zu den Geehrten vor allem Schriftsteller, Publizisten und Wissenschaftler wie Hermann Hesse (1955), Martin Walser (1998), Susan Sontag (2003) oder Orhan Pamuk (2005); nur in Ausnahmefällen wurden Politiker wie der Jerusalemer Bürgermeister Teddy Kollek (1985) ausgezeichnet. Umso gespannter warten alle auf die Rede, die Kiefer anlässlich der Ehrung im Rahmen der Frankfurter Buchmesse in der legendären Paulskirche am 19. Oktober halten wird.

Als provokant gilt die Entscheidung des Stiftungsrates auch, da Kiefer in Deutschland nicht nur bewundert und geehrt wurde, sondern gerade aufgrund seiner Auseinandersetzung mit dem Thema Nationalsozialismus genauso auf Ablehnung und Widerstand stieß. Eine "Überdosis an Teutschem", zuviel Pathos, Monumentalität und "Deutschtümelei" sei in seiner Kunst, ätzten Kritiker. Für heftige Diskussion sorgte insbesondere die Serie "Besetzungen" (1969), bei der Kiefer performanceartig faschistische Verhaltensmuster studierte und sich selbst mit dem Hitlergruß porträtierte.

Inspiration durch Judentum

Die deutsche Vergangenheit hat den am 8. März 1945 im süddeutschen Donaueschingen geborenen und in zweiter Ehe mit einer Österreicherin verheirateten Künstler seit seinen malerischen Anfängen beschäftigt. Genauso wie die Auseinandersetzung mit Sprache und Literatur. Zunächst sah es auch ganz nach einer bürgerlichen Karriere aus, denn der Sohn eines Zeichenlehrers studierte anfänglich Jus, Literatur und Linguistik. Bald vertauschte Kiefer den Schreib- mit dem Zeichenstift - es folgten Studien an den Kunstakademien von Karlsruhe und Düsseldorf, wo er Schüler von Joseph Beuys wurde.

Kiefer hat mit seiner Kunst, die in der gestischen Malerei der Nachkriegszeit wie in der Materialästhetik seines Lehrers Beuys wurzelt, einen Akzent gesetzt. Gegen die Abstraktion und die Verweigerung von Aussagen, die viele seiner Kollegen als einzige Möglichkeit sahen, um dem Schrecken des Holocaust zu begegnen. Er blickt über den Tellerrand hinaus, kritisiert die "Selbstbezüglichkeit der Kunst: sie reagiert auf andere Kunst, ohne über die Welt nachzudenken. Am besten ist es, wenn die Kunst auf Dinge außerhalb ihrer selbst reagiert." Neben der Beschäftigung mit dem Dritten Reich beginnt Kiefer sich bereits in den 70er Jahren mit der jüdischen Religion, genauer genommen, der Kabbala, zu befassen. Es entstehen die "Lilith-Serien", "Emanation" oder "Sephirot" - auch Werke, die von Texten aus dem Alten Testament inspiriert wurden wie "Aaron" oder "Auszug aus Ägypten".

Als Kiefer, mittlerweile einer der renommiertesten deutschen Künstler und mit zahlreichen Ehrungen und Preisen versehen, 1994 ins südfranzösische Barjac übersiedelt, wandelt sich sein Schaffen: Zu den historischen, religiösen und literarischen Bezügen gesellt sich die Beschäftigung mit Natur und Kosmos, wie "Lichtzwang" oder "Sternenfall" widerspiegeln.

"Folianten als Schutzschilde"

Kiefers Kunst ist, auch wenn es sich um keine Literatur im engeren Sinn handelt, in hohem Maß sprachlich. Bücher, Satzteile, Schriftzeichen sind feste Bestandteile seiner Werke. Zu seinem Markenzeichen wurde eine kindliche, ungelenk wirkende Schreibschrift. Oft ist es nur ein einzelnes Wort, manchmal sind es handschriftlich notierte Zitatfragmente, die seine Bilder akzentuieren: "Ein Schwert verhieß mir der Vater!" ist in einem seiner "Bücher" zu lesen, das sich mit Richard Wagners "Walküre" befasst, "Espenbaum - für Paul Celan" auf einer großformatigen Leinwand.

Die Wahl des Stiftungsrates ist markant. Vor allem deshalb, weil sie ein deutliches Signal in Bezug auf die Grenzüberschreitung zwischen Literatur und bildender Kunst setzt. Maler und Schriftsteller haben seit langem eine Annäherung zwischen Text- und Bildkunst praktiziert - nur der Literatur- und Kunstmarkt wollte das nicht immer wahrhaben. Mit dem Friedenspreisträger Kiefer wird die Mauer nun offiziell niedergerissen. Gerade der bildende Künstler Kiefer vermag - so die Begründung der Jury - dem Buch ein besonderes Denkmal zu setzen: "Er hat das Buch selbst, die Form des Buches, zu einem entscheidenden Ausdrucksträger gemacht. Gegen den Defätismus, der Buch und Lesen eine Zukunft abzusprechen wagt, erscheinen seine monumentalen Folianten aus Blei als Schutzschilde."

Bleibt die Frage, ob der in Bezug auf seine Holocaustarbeiten umstrittene Kiefer auch ein würdiger Friedenspreisträger ist? Wenn Kunst und Literatur einen Beitrag zum weltweiten Frieden leisten können, dann stellt Kiefers Gesamtwerk zumindest einen überzeugenden Versuch dar. Weil seine geschichtsbezogene Kunst nicht vordergründig illustrierend ist, sondern in ihrer ästhetischen Struktur vielgestaltig und offen.

Anselm Kiefer hat eine Bildsprache gefunden, die gebildet ist und dennoch nicht belehrt. Eine Sprache, mit der er von den Gräueltaten totalitärer Regime genauso erzählen kann wie von der Zartheit eines Gedichts. Eine Sprache, die aufgrund ihrer visuellen zeichenhaften Qualitäten überall lesbar ist, egal ob in Europa, Asien oder Australien.

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