Identitätsstiftendes Kulturprojekt

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Die Fassade der früheren Zentrale der kommunistischen Partei in Plovdiv, eines Wahrzeichens des Totalitarismus, ist mit der Flagge des Kulturhauptstadtjahres verhüllt. Ein Zug tanzender Menschen und das Motto "Together" prangen vor violettblauem Hintergrund. Wo früher kommunistische Propaganda für die Volksmassen fabriziert wurde, wird um Kultur geworben. Eine Installation, würde man meinen, so wie das wandernde Projekt des Künstlers Sylvestre Verger mit bemalten Teilen von der Berliner Mauer, das rund um das antike Stadion in Plovdiv zu sehen ist. 30 Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks geben sie Reflexionen einer getrennten Welt wieder. Doch die Grenzzäune sind nicht in der Vergangenheit geblieben. Weltweit kehren sie jetzt zurück. Sie treten auf als scheinheilige Akteure, die uns die Probleme vom Hals schaffen sollen. Mit dem Titel "Kulturhauptstadt Europas", der heuer zum ersten Mal an Bulgarien geht, zelebriert das postkommunistische Land das Glück, in Freiheit zu leben und zu schaffen. Und sendet zugleich die Botschaft: Der Zusammenhalt in Europa muss ein großes Ziel bleiben.

"Plovdiv 2019" ist nicht bloß eine lange Reihe sehenswerter Ausstellungen, großartiger Konzerte und Happenings. Das Eventjahr eröffnet für die bulgarische Kulturszene die Perspektive, Kultur als reales Instrument zur gesellschaftlichen Veränderung zu verstehen. So ein Wagnis stellt die Inszenierung des Stückes "Medea" von Euripides dar. Es wird erst Ende Juni im antiken Theater aufgeführt, die Vorbereitungen haben aber bereits begonnen. Im Rahmen eines gleichnamigen Integrationsprojekts finden Workshops für junge Roma, Juden und Armenier statt. Nach einem Auswahlverfahren werden es einige von ihnen schließlich bis auf die große Bühne schaffen. "Bei den einzelnen ethnischen Communitys haben die Trainings hervorragend funktioniert", erzählt Sneschina Petrova, die Darstellerin der "Medea"."Wir haben uns mit dem Thema 'Konflikt' auseinandergesetzt -Konflikt in der Familie, Konflikt zwischen den Eltern und der Platz der Kinder in diesem Konflikt. Die reale Herausforderung wird allerdings erst dann kommen, wenn die Proben für die Aufführung beginnen", meint sie und hofft, dass die Kinder bereit sein werden, zusammen zu spielen.

Hippe Viertel und Roma-Ghetto

Die zweitgrößte Stadt Bulgariens mit rund 343.000 Einwohnern floriert, ihr Industriegürtel wächst mit jedem Jahr, er sorgt für Arbeitsplätze und Sicherheit. Im Stadtinneren, im hippen Quartier Kapana ("Die Falle") macht sich indessen eine alternative Szene wie im Berliner Kreuzberg-Viertel breit. Jungunternehmer und Kreative fühlen sich hier zu Hause. Handwerkstätten bieten unikale wollene Strickkleider an, kleine Restaurants verbinden die Nachhaltigkeit durch den Gemüseanbau aus der Region mit der Tradition der Oma-Rezepte, Cocktailbars heimgekehrter Emigranten aus den USA locken mit gutem Jazz. Die Fußgängerzone in Kapana ist der richtige Platz für Performances und Festivals, für Experimente und Installationen wie die des italienischen Künstlers Alberto Garutti, bei der mit jedem neugeborenen Kind die Straßenlaternen zu blinken beginnen. Der Puls von Plovdiv schlägt schnell, doch Minderheiten, vor allem die 80 000 Roma, sind von dieser Entwicklung ausgeschlossen. Die meisten von ihnen leben in Stolipinovo, einem der größten Roma-Ghettos Europas. Die Vorurteile gegenüber den Roma sind groß, kleine kriminelle Delikte fachen das rassistische Feuer immer wieder an.

Die Gruppe von Kulturschaffenden, die sich vor sechs Jahren für die Kandidatur der bulgarischen Stadt um den Titel Kulturhauptstadt 2019 zusammengetan hat, drückt sich nicht davor, diesen Konflikt zu thematisieren. Im Gegenteil. In der Begründung stand er als Trumpf, erzählt Mariana Tscholakova, Dozentin für Kulturproduktion und deutsche Honorarkonsulin in Plovdiv: "Zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen, die jahrhundertelang in Plovdiv harmonisch zusammengelebt haben, gibt es Reibungen. Als wir den Antrag für den Titel 'Kulturhauptstadt Europas' stellten, wollten wir ehrlich sein und haben das Konzept aus dieser Perspektive entwickelt. Ein Großteil der sozialen Probleme kann nicht bloß durch Sozialhilfen gelöst werden. Wir benötigen dazu mehr Bildung und Kultur." Das Motto der Kulturhauptstadt Plovdiv war schnell gefunden -"Together". Doch wie der Titel für einen neuen Umgang mit Konflikten und Kultur eingesetzt werden soll, darüber gingen die Meinungen von Bürgervertretern und Politikern auseinander.

Kulturschaffende vs. Politiker

Im Vorfeld von Plovdiv 2019 wurden widerspenstige Kulturschaffende vom Vorstandsrat verdrängt. Ein Kritiker ist der Verleger Manol Pejkov. Er ist davon überzeugt, dass durch solche Praktiken das ganze Projekt der Kulturhauptstadt leidet. "Der Fokus wich langsam von unseren ursprünglichen Ideen ab. Wir hatten anspruchsvolle Ausbildungen für Kulturmanager vorgesehen, auch eine Zusammenarbeit zwischen jungen Kulturmanagern und europäischen Partnern. Der Maßstab ist nun bedeutend kleiner geworden. Leider. Nicht das Ereignisjahr 2019 selbst ist wichtig. Wichtig ist, was bleibt. Ob wir im Jahr 2020 als eine reifere Gesellschaft und bessere Stadt aufwachen oder nicht."

Iwajlo Dernev, Journalist bei der Onlinezeitung Pod Tepeto, findet das Programm von 300 Projekten und mehr als 500 Events hingegen sehr gut. Den Umgang der Politiker mit dem Riesenkulturprojekt hingegen nicht. Rund zwei Millionen Besucher werden erwartet, zugleich ist das Stadtzentrum eine Baustelle. Der Grund: Um drei Jahre hat sich die Finanzierung für Plovdiv 2019 verzögert. Gerichtliche Prozesse über Eigentum ziehen sich immer noch und blockieren den Umbau von Galerien. Die Staatsoper wartet schon jahrelang auf einen modernen Saal. Vizekulturministerin Anelia Gescheva nimmt die Kritik gelassen hin: "Es ist nicht wichtig, wann genau die neue Infrastruktur fertig wird, sondern die Tatsache, dass kolossale Änderungen im Stadtbild und in der Kulturpolitik im Gange sind", sagte sie.

Plovdiv streitet und diskutiert. Es wird dabei aber schon auf den ersten Blick klar: Die Debatten, auch wenn manchmal erhitzt, treiben die schöne Stadt voran. Bereits mit dem Erwerb des Titels "Kulturhauptstadt Europas" ist das touristische Interesse für das antike Plovdiv um 40 Prozent gestiegen. Erbaut auf Hügeln, wie einst Rom, blickt die zweitgrößte Stadt Bulgariens auf eine mehr als 8000 Jahre alte Geschichte zurück. Auf den Resten römischer Monumentalbauten stehen christliche, armenische und muslimische Gotteshäuser. Die reich verzierten Häuser der Handelsfamilien aus der Zeit der Bulgarischen Wiedergeburt, einer kulturellen Blütezeit während der 500-jährigen Herrschaft der Osmanen, beherbergen Museen mit umfangreichen Sammlungen an Malerei, Ikonen und Holzschnitten.

Gemeinsam Räume erschließen

Seine seltene kulturelle Vielschichtigkeit möchte Plovdiv für ein großes Publikum aus aller Welt öffnen. Das Potenzial der "Stadt auf sieben Hügeln" herausholen, heißt auch, vernachlässigte urbane Orte zu neuen Gemeinschaftsräumen zu transformieren. Eine Reihe von Events dieser Art ist Teil des Kulturkalenders 2019 -die Flashmobs in den einzigartigen Tabaklagern und die Kunstfabrik an der Mariza etwa. In ihrem Fluss soll das Gemeinschaftsgefühl in Plovdiv erstarken. Das wünscht sich der Journalist Ivajlo Dernev zu Beginn des Kulturjahres: "Für mich ist es wichtig, dass sich die ganze Stadt mit dem gigantischen Kulturprojekt identifiziert. Dass man sich denkt: Das ist mein Projekt. Aber auch das Projekt der Künstler, die im Atelier nebenan arbeiten, eines kleinen Kulturvermittlers, des Armeniers um die Ecke. Dass sogar der Taxifahrer davon spricht! So einen Zusammenhalt erhoffe ich mir!"

Die Autorin arbeitet in Sofia/Wien als freie Südosteuropa-Korrespondentin

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