Ihre Bilder zerreißen den Schleier der Zeit
Gisele Freund: Eine Chronistin des Jahrhunderts wird 90.
Gisele Freund: Eine Chronistin des Jahrhunderts wird 90.
Gisele Freund war mit vielen der literarischen Größen, "deren Paris" das auf Seite 20 dieser Furche besprochene Buch "Paris - Stadt der Dichter" huldigt, befreundet und hat viele von ihnen verewigt. Ihre Bedeutung nicht nur als Porträtistin, sondern als Chronistin dieses Jahrhunderts schlechthin, wird viel zu langsam erkannt. Ihr Platz ist gleich neben Cartier-Bresson, ähnlich wie der von Kertesz, und wie Cartier-Bresson feiert auch sie demnächst ihren 90. Geburtstag.
Ihre Bilder zerreißen den Schleier der Zeit - und machen ihn umso schmerzhafter fühlbar. Viele haben diese bestürzende, fühlbare, aber kaum erklärbare Unmittelbarkeit. Man möchte sich einmischen, wenn man Andre Malraux auf dem Internationalen Schriftsteller-Kongreß 1935 reden sieht, ohne zu wissen, wovon die Rede war. Trauer über seinen Selbstmord an der spanischen Grenze steigt auf, noch nach Jahrzehnten, wenn man ihr einfühlsames Porträt von Walter Benjamin sieht - Trauer über das bei dieser Gelegenheit verschwundene Buchmanuskript, das Benjamin für sein wichtigstes hielt.
Im Mittelpunkt steht bei Gisele Freund fast immer der Mensch, sein Antlitz, der ganze Mensch, seltener der Mensch in Aktion. Auch wenn wahr ist, daß ihre Reportage von der Armut englischer Arbeitsloser (1936) für immer ein Hauptwerk sozial engagierter Fotografie bleibt, daß ihre Bilder des Schriftstellerkongresses von 1935 etwas von der Bedeutung dieses Ereignisses ahnen lassen und seine Atmosphäre retten: Am größten ist Gisele Freund doch, wo sie sich ganz auf ein Gesicht konzentriert, auf einen Menschen eingeht.
Nun dürfen wir wieder einmal von ihr lesen. In den kurzen Texten, mit denen sie die Geschichte von Bildern und Geschichten zu Bildern erzählt, erweist sie sich als prägnante, mit wenigen Worten Atmosphäre herstellende Erzählerin. Köstlich die Begegnung mit dem etwas wehleidigen James Joyce, der hinterher bekennt: "Gisele ist hartnäckiger als ein Ire! Ich wollte nicht in Farbe aufgenommen werden, aber sie hat mich besiegt, zwei Mal sogar!"
Ein Foto von Gisele Freund, immerhin schon damals einer bedeutenden und anerkannten Fotografin, durfte der Abgebildete niemals sehen. George Bernard Shaw hatte sich ausbedungen, sein Bart müsse in voller Länge aufs Bild, als ein Kurzschluß das Licht ausfallen ließ. GBS setzte sich im Mondlicht in Positur - aber ein Teil des Bartes fehlte.
Mehrere bedeutende Menschen, unter ihnen vor allem Virginia Woolf im Juni 1939, wurden wohl von niemandem besser fotografiert als von Gisele Freund. Daß Woolf sich dafür, wie deutlich zu erkennen ist, mehrmals umkleidete, widerlegt den später erhobenen Vorwurf eines fotografischen "Überfalls".
Auch das 1959 entstandene Bild eines am Fenster seiner Wohnung stehenden, auf Saint-Germain-de-Pres hinabblickenden Jean-Paul Sartre hat den Reiz des eingefrorenen, einmaligen, unwiederbringlichen Augenblicks.
Zu vielen Fotos weiß Gisele Freund zu erzählen. Zu den traurigsten Stellen zählen die wenigen Worte, mit denen sie die Bitterkeit schildert, mit der Walter Benjamin, der in größter materieller Not als in Emigrant in Paris von einer kleinen Rente des Sozialwissenschaftlichen Instituts Horkheimers und Adornos lebte, auf eine scharfe Kritik Adornos an Benjamins Texten reagierte. Er konnte sich - wegen dieser Rente - Adorno nicht offen entgegenstellen und brauchte Wochen, um darüber hinwegzukommen.
SANFT ENTSCHLAFEN Roman von Donna Leon Diogenes Verlag, Zürich 1998 338 Seiten, geb., öS 285,