Im Anfang war das Wort

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Über die Keimzelle sprachlicher Kreativität.

Das scheinbar so elementare Vokabel Wort birgt in seinem Verwendungsspektrum eine Fülle von semantisch wohl unterschiedenen Lesarten. Von der kleinsten selbständigen sprachliche Äußerung des Menschen mit bestimmtem Bedeutungsgehalt (Plural Wörter) bis zur zusammenhängenden Äußerung (Plural Worte). Die gleiche Mehrzahlbildung charakterisiert auch die benachbarten Gebrauchsarten: zunächst "Ausspruch" wie in "dieses Wort stammt von Schiller" oder "ein geflügeltes Wort", dann aber auch "Text" ("eine sozialkritische Analyse in Wort und Bild"). Seltener ist die Bedeutung "Rede", die sich vor allem in Idioms wie "jemandem das Wort abschneiden, das große Wort führen, nicht zu Wort kommen" belegen lässt. Bereits mit den Merkmalen archaisch bzw. fachsprachlich konnotiert sind die Varianten "Versprechen, Ehrenwort" und besonders "Inhalt der Offenbarung, der im Alten und Neuen Testament seinen Niederschlag gefunden hat" ("das Wort Gottes, das heilige Wort") und da vor allem "die zweite göttliche Person der Dreifaltigkeit", die der griechische Originaltext Logos nennt, womit wir ja beim Beginn des Johannesevangeliums und beim Titel unseres Beitrags angelangt wären: "Im Anfang war das Wort."

Die Leiden der jungen Wörter

Neuwörter, rezente Bezeichnungen, oft in des Wortes doppelter Bedeutung unerhörte Ausdrücke zählen - bisweilen unbemerkt - zu unserem sprachlichen Alltag und firmieren quasi als Spurenelemente unablässiger verbaler Kreativität. Neue Entdeckungen und Erfindungen, Freizeitaktivitäten und Sportarten, Modetänze und Textilprodukte, Technologisches ebenso wie zeitgeistige Begleitgefühle wollen benannt und zitierbar werden, melden unablässig ihren Bezeichnungsbedarf an. Wer keine Nonsens-Gebilde verwenden, sich nicht mit willkürlichen Abkürzungen abfinden oder auf Lehn- und Fremdwörter beschränken will, muss selbst kreativ werden oder Produktnamen in Auftrag geben, wie wir das aus der kommerziellen Anzeigenwerbung zur Genüge und im Detail kennen. Benennt eine verbale Neuschöpfung den neuen Inhalt mit vorhandenen Sprachelementen und nach angemessenen Wortbildungsregeln, so können wir von systemerhaltender Kreativität sprechen. Erprobt oder sprengt die Neuschöpfung bewusst oder unwillkürlich den vorgegebenen Rahmen, dann bleibt der Neologismus entweder eine markierte Randerscheinung oder er führt in cumulo einen partiellen Sprachwandel herbei.

Sicher ist die Fachsprache der Werbung ein künstliches Idiom, das unter natürlichen Sprechern allenfalls in Zitaten oder kabarettistischen Sketches begegnet: Und so hat denn Hans Weigel sein sprachkritisches Buch mit dem parodistischen Titel "Die Leiden der jungen Wörter" vor allem aus diesem Funktionalstil gespeist. Doch gelegentlich schaffen zu Reklamezwecken geprägte Neologismen schier unmerklich den Übergang in die gehobene Umgangssprache: Wer sieht es etwa den Fachvokabeln Kindersicherung oder Fahrverhalten noch an, dass sie sich ursprünglich der Werbekampagne bestimmter Automarken verdanken.

Das Ergebnis höherer Aufmerksamkeit beim Rezipienten, wenn seine Erwartung und Leseroutine gleichsam gegen den Strich gebürstet wird, hat sich schon in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts der Russische Formalismus mit seinem ästhetischen Prinzip "Kunst als Verfahren" zunutze gemacht. Zur Erinnerung ein paar Beispiele, die den Lesern von Plakatwänden vielleicht noch gegenwärtig sind: das Wollbehagen (=Wollwohlbehagen) der Strickwarenindustrie, die Vierterlstunde des Winzerverbandes, der Braubart (mit Blaubart-Assoziation) eines großen Bierherstellers, der Feuerabend (die assoziative Brücke zwischen Kaminfeuer und Feierabendstimmung wird bildsemiotisch noch verstärkt!) als komprimierter Slogan für ein hartes Getränk. Auch das österreichische Fernsehen hat sich diesen Mechanismus angeeignet, wenn es etwa das solistische Sammelprogramm einer beliebten Komödiantin mit dem neologistischen Titel Ottpourri ankündigt.

Poetische Wortspiele

Als ein wesentliches, wenn nicht das wichtigste durchgängige Merkmal der österreichischen Literatur hat der renommierte Germanist Walter Weiss den Hang zur Thematisierung der Sprache namhaft gemacht. Dieser behauptete gemeinsame Nenner jenseits von Epoche, Genre und individueller Persönlichkeit meint, vereinfacht gesprochen, dass Sprache für den jeweiligen Dichter oder Schriftsteller mehr ist als nur ein Instrument der Bezeichnung, Beschreibung oder Mitteilung, dass er sie vielmehr um ihrer selbst willen ständig erprobt, durchleuchtet, auf den Prüfstand stellt, vermeintliche oder tatsächliche Querverbindungen und Bezüge im Wortschatz aufstöbert und poetisch nützt.

Der Possenschreiber und Angewandte Sprachphilosoph Johann Nestroy karikiert und überdehnt etwa die Tendenz und Fähigkeit des Deutschen zu Mehrfachkomposita, die sich durchaus auch in Wortungetümen der Verwaltungssprache manifestieren kann. (Der Donaudampfschiffahrtsgesellschaftskapitän ist nur einer von vielen notorischen Extremfällen.) Nestroys kreativer Wortwitz besteht nun darin, diese ausgeprägte Neigung aus dem Sektor verschrobener Funktionalstilistik herauszulösen und Figuren seiner Stücke als quasi leibeigene Züge zuzuordnen, was dem Wesen dieser Sprecher eine lächerliche Umständlichkeit verleiht. Ich beschränke mich auf zwei Beispiele aus "Der Färber und sein Zwillingsbruder": "Meister in fremder Lebensglück-Zernichtung, Meister in Unschuldsknickung, Meister in Familienfrieden-Zerstörung!" - "Füge zu dem Verbrechen der Gnädigen-Fräulein-Verlockung noch die Greueltat der Treuen-Diener-Hinauswerfung hinzu und du bist vollendetes Ungeheuer!" Die parodistische Thematisierung der Sprache überdehnt ein Wortbildungsprinzip gerade dadurch, dass der Autor es spielerisch und zur Charakterisierung einer Person überstrapaziert.

Nur hingewiesen werden kann auf die sprachkreativen Prozesse in der experimentellen Lyrik von Ernst Jandl, etwa in seinem Band Laut und Luise, dessen Überschrift bereits sprachliche Erwartungen irritiert. Wenn er im Gedicht falamaleikum den islamischen Friedensgruß über die Zeilen sukzessive in die Aussage falnamaleutum (= fallen einmal Leute um) verändert, verbindet sich mit dem kreativen Wortspiel eine so tiefsinnige wie skeptische Botschaft. Ein Musterbeispiel sprachlicher Manipulation, die sich auch als eine politische Interpretation lesen lässt, bietet der bekannte Text lichtung:

manche meinen

lechts und rinks

kann man nicht

velwechsern.

werch ein illtum!

Wenn der Rezipient bei lechts und rinks noch an einen lapsus linguae vel calami glauben kann, so wird der Fehler, das Defizit, die enttäuschte Erwartung mit den nachfolgenden Neologismen velwechsern und werch ein illtum zum System erhoben. Damit erhält aber im Rückblick auch der Gedichttitel eine neue Lesart: aus der unmotivierten Lichtung wird die durch den Kontext und die konstante Vertauschung begründete Richtung. Auch die Doppelbödigkeit des Textes ist evident: die phonetische Nähe und Austauschbarkeit der beiden Laute l und r, die zu zahlreichen banalen Ostasienwitzen Anlass bietet, korrespondiert mit dem semantischen Befund, dass die Grenzen zwischen rechts und links verfließen, dass die Ziele und Programme politischer Parteien austauschbar werden und zu verwechseln sind.

Gefrorene Wortbilder

Folgende Episode könnte man für eine Anekdote halten, sie kann jedoch von Augen- und Ohrenzeugen bestätigt werden. Sie begab sich in den achtziger Jahren an meinem Institut, im Vorfeld jener Schnuppertage, durch die Absolventen höherer Schulen mit dem Angebot der universitären Lehre vertraut gemacht und für eine Studienrichtung interessiert werden sollten. Die Mitteilung meiner Sekretärin, die Klasse einer Holzfachschule hätte sich mit ihrem Lehrer für eine meiner Vorlesungen angesagt, erregte eines Tages mein verständliches Misstrauen: ich vermutete ein Informationsdefizit oder - um im Bild zu bleiben - einen Holzweg. Die Vorlesung, welche die Neugierde der Aspiranten erweckte, trug den Titel "Wurzelstruktur und Stammbildung im Indogermanischen." Fazit dieser Begebenheit: Wir leben in unserem Alltag schier unbemerkt mit einer Fülle von toten Metaphern, von gefrorenen und konventionalisierten Sprachbildern, die nur der fremde Blick eines Außenstehenden freilegt, indem er unter besonderen Umständen und aus eigener Sprachroutine die wörtliche Bedeutung annimmt. Beispiele solcher geronnener Übertragungen begegnen uns in Legionenstärke: der Strom, der nicht in einem Flussbett, sondern aus der Steckdose fließt; die Feder als mechanische Vorrichtung; der Berg, der in gleichsam anthropomorpher Sehweise einen Fuß, eine Nase, einen Rücken, einen Kamm aufweist. Wir reden auch ohne poetische Anmaßung von einem Berg Schulden, von einem Tränenmeer, von einem Mannsbild wie ein Baum, vom Redefluss, von brennenden Problemen, vom Licht der Wahrheit. Dass solche Metaphern in unsere Umgangssprache eingedrungen und dort sesshaft geworden sind, hat aus linguistischer Sicht mehrere Gründe: Benennungsbedarf, wie wir ihn schon zu den Neologismen angeführt haben, der Hang zur sprachlichen Variation, aber auch eine Affekterneuerung in unserem täglichen Reden, die freilich dann ausbleibt, wenn das ursprüngliche Bild zur Unkenntlichkeit verblasst ist. Darum ist dieser Erneuerungsprozess, dieses kreative Verfahren auch rekursiv, wird niemals abgeschlossen sein, bleibt - um es wieder metaphorisch zu sagen - ständig im Fluss. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.

Kurzfassung eines Vortrags beim Österreichischen Wissenschaftstag, der von 24. bis 26. 10. stattfand und von der Österreichischen Forschungsgemeinschaft im Frühsommer 2003 unter dem Titel "Woher kommt das Neue? Kreativität in Wissemschaft und Kunst im Böhlau-Verlag Wien publiziert wird.

Der Autor ist Professor für Allgemeine Sprachwissenschaft an der Universität Salzburg.

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