Im Dschungel der Bestseller

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Die erste deutsche Bestsellerliste war eine Fälschung. Die Erhebungsmethoden haben sich seither verfeinert. Die Angaben trügen aber noch immer: Kontrollen fehlen ebenso wie qualitative Methoden.

Die erste deutschsprachige "Best-Seller-Liste" erschien im September 1927 in Die literarische Welt und war eine Fälschung: Hermann Hesses "Der Steppenwolf" führte vor Alfred Neumanns "Der Teufel": Vom "Steppenwolf" wurden 16.000, von Neumanns heute unbekanntem "Teufel" aber gleich 55.000 Stück verkauft. Hesses Roman, den Thomas Mann in seiner "experimentellen Gewagtheit" dem "Ulysses" gleichsetzte, wurde bis 1940 insgesamt nur 40.000-mal verkauft. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Geschichte von Harry Haller den internationalen Durchbruch. Auf Rang drei landete Gunnar Gunnarssons "Die Leute auf Borg", von dem im selben Jahr bereits 70.000 Exemplare abgesetzt wurden. Die Redaktion schätzte den "Steppenwolf" offensichtlich mehr als das Publikum und reihte ihn auf den ersten Rang.

Um den englischen Titel zu vermeiden, schrieb die Literarische Welt dazu noch 100 Reichsmark als Preis für "die beste, kürzeste und prägnanteste deutsche Übertragung der englischen Bezeichnung, Best-seller'" aus. Die 100 Mark mussten nicht ausbezahlt werden: Es gab keine Einsendungen und nach eineinhalb Jahren wurde die Bestsellerliste ohne Begründung wieder eingestellt.

Die Frage nach den Auswahlkriterien

Die Tradition der Reihung stammt aus Amerika: 1895 veröffentlichte die US-Fachzeitschrift The Bookman die erste Bestsellerliste der Welt. Heute gilt die Bestsellerliste der New York Times als maßgeblicher Indikator für weltweiten Erfolg. In Deutschland konnte sich die regelmäßige Reihung von Verkaufserfolgen erst nach dem Zweiten Weltkrieg durchsetzen. Ausgerechnet in der intellektuellen Wochenzeitung Die Zeit, die den kommerziellen Aspekten der Buchproduktion gerne skeptisch gegenübersteht, erschien 1957 die erste Liste mit dem Titel "Seller-Teller".

Seither gibt es im deutschsprachigen Raum mindestens siebzig verschiedene Listen, die Bücher nach Verkauf und anderen Kriterien auswählen und reihen. Als besonders bedeutend wird von Buchhändlern die wöchentliche Reihung des Spiegel gewertet, die bis 2001 allerdings eine subjektive Auswahl darstellte. Erst als der direkte Magazin-Konkurrent Focus begonnen hatte, die Verkaufszahlen in 750 Buchhandlungen abzufragen, begann der Spiegel seine Liste ebenfalls direkt in rund 350 Geschäften zu erheben, die nach eigenen Angaben "so ausgewählt wurden, dass sie mit ihren Umsätzen und Standorten der Gesamtheit des Buchhandels in Deutschland entsprechen".

Da aber auch eine quantitative Liste eine redaktionelle Funktion erfüllen muss, existieren für die Spiegel-Bestsellerliste "Auswahlkriterien", die verhindern sollen, "dass die Bestsellerlisten nicht durch den Duden oder Kochbücher, Ratgeber oder Fitness-Rezepte blockiert werden", zudem muss es sich bei den Inhalten der Bücher um "eigenschöpferische Leistungen" handeln.

Der Trick mit der "Startauflage"

Das Problem ist, dass Bestsellerlisten von jenen erstellt werden, die davon kommerziell profitieren: Verlagen, ihren Auslieferungen und Buchhändlern. Die Platzierung auf einer Bestsellerliste gibt keine Auskunft über die tatsächlich verkaufte Stückzahl eines Buches. Denn mit diesen wirtschaftlich wichtigen Angaben gehen Verlage, wie andere Unternehmen auch, äußerst sparsam um. "Zwischenzeitlich haben die Verlage mit einem recht billigen Trick versucht, Bestseller-Erfolge durch Suggestion zu erzeugen, die berüchtigte Startauflage", schreibt Rainer Schmitz in seinem vergnüglichen Literatur-Lexikon "Was geschah mit Schillers Schädel" und resümiert: "Diese in den Verlagsprospekten versprochenen Auflagen stimmen nie."

Auch in Österreichs Printmedien kursieren die unterschiedlichsten Reihungen, die zum Teil ohne weitere Angaben in Eigenregie bei kaum mehr als einem Dutzend Buchhandlungen durchgeführt werden. Als verlässlich gilt die Reihung des Verlagsbüros Schwarzer, das monatlich in mehr als hundert Buchhandlungen die Verkaufszahlen erfrage, wie es die für das monatliche Ranking verantwortliche Elisabeth Norwood schildert. Größe und Lage der Buchhandlung werde dabei natürlich berücksichtigt. Den Ausfall eines Händlers versuche sie, so Schwarzer, durch einen ähnlich großen Händler in derselben Region zu ersetzen. Die Daten stammen aber nicht aus dem Warenwirtschaftssystem, sondern werden von den Händlern selbst in die Listen eingesetzt. Auswahlkriterien gibt Schwarzer keine vor, Streichungen werden nicht vorgenommen. Eine genaue Angabe von Stückzahlen sei ebenso wie die Kontrolle der Händler unmöglich. Schlechte Erfahrungen mit versuchten Fälschungen habe Norwood aber noch keine gemacht: "Ich vertraue den Zahlen."

Das aktuelle Leseverhalten und die Trends am Buchmarkt können auch öffentliche Büchereien beobachten. Mit Abstand am meisten ausgeliehen würden noch immer Krimis, sagt Erich Schirhuber von den Büchereien Wien. Großen Einfluss hätten auch Neuverfilmungen von Büchern, die dann plötzlich wieder stärker ausgeliehen werden, wie das beim Jugendbuch "Die rote Zora" zu beobachten gewesen sei.

Die aktuellen Bestseller sind auch in Büchereien viel georderte Werke. Das am meisten vorbestellte Buch in den Büchereien Wien ist aktuell Stephenie Meyers zweiter Band der "Twilight"-Vampirsaga "Bis(s) zur Mittagsstunde", gefolgt von Charlotte Roches pubertärem Ulk "Feuchtgebiete". Auf Platz drei der Vorbestellungen steht Meyers erster "Twilight"-Band "Bis(s) zum Morgengrauen". Meyers College-Vampirgeschichte hat in den Bestsellerlisten und Büchereien die höchst lebendige Nachfolge der "Harry Potter"-Bände angetreten, die auch in den Büchereien Wien lange Zeit die beliebtesten Bücher waren. Wenn sich Kinder und Jugendliche durch 4000 Seiten Harry Potter wühlen, dann "schrecken sie später vielleicht auch nicht vor Prousts, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit' zurück", begrüßt Schirhuber sämtliche Formen des Lesens.

Bücher wandern von einer Hand zur nächsten, sie werden verschenkt und nie gelesen, in Büchereien ausgeborgt und landen letztlich im Antiquariat oder im Altpapier. Diese dynamischen Prozesse kann keine Liste wiedergeben, und daher gibt es kaum verlässliche Möglichkeiten zu ermitteln, welches Buch denn tatsächlich von wie vielen Interessierten gelesen wurde.

Bestsellerlisten ohne "Best-Seller"

Einen alternativen Ansatz verfolgte die Zeit auf ihrer Online-Plattform zwischen 2004 und 2008 und veröffentlichte die wöchentlichen Bestsellerlisten des "Zentralen Verzeichnis Antiquarischer Bücher". Aus wirtschaftlichen Gründen musste das Service zum Bedauern der Redaktion wieder eingestellt werden.

Bestsellerlisten erscheinen regelmäßig. Auch zu Zeiten, in denen es gar keine Bestseller gibt. Rein ökonomisch betrachtet gilt ein Buch, das mehr als 100.000-mal verkauft wurde, im deutschsprachigen Raum als Bestseller. "Was Thema, Stoffwahl, Stoffbehandlung und Umfang, Titel und Name des Autors betrifft", definiert es Rainer Schmitz, "werden als Bestseller jene Bücher bezeichnet, bei denen sich Qualität und Wirkungskraft auf eine Weise ergänzen, dass sie zu einem Wertungsbegriff werden." Bestseller seien, salopper formuliert, Markenzeichen ihrer Generation. Aber nicht ständig können neue Bücher beide Kriterien er- und die Bestsellerlisten auffüllen.

Über literarischen Wert und Dauerhaftigkeit des Interesses sagen quantitative Wertungen ohnedies nichts aus. Einige der größten Bestseller sind heute längst vergessene Bücher wie Agnes Günthers "Die Heilige und ihr Narr" (1913) oder Arnold Kriegers "Geliebt, gejagt und unvergessen" (1955), die beide eine Auflage von mehr als einer Million erreichten, während sich Werke der Weltliteratur oft schleppend verkaufen.

Literatur bildet das Leben ab, und die neugierigen Leserinnen und Leser werden ihr individuelles Abbild vom Leben nicht in zeitgeistigen Listen suchen. Und auch Hermann Hesse hat einmal geschrieben: "Das Leben lässt sich nicht ablisten."

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