IM NÄCHSTEN AUGENBLICK HISTORISCH

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VLADIMIR VERTLIBS ERFAHRUNG EINER MEHRFACHIDENTITÄT FLIESST AUCH IN SEINE ESSAYS.

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VLADIMIR VERTLIBS ERFAHRUNG EINER MEHRFACHIDENTITÄT FLIESST AUCH IN SEINE ESSAYS.

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Wo immer Vladimir Vertlib hinschaut, er stößt auf Spuren der Geschichte. Nie gelingt es ihm, ganz gleich, ob er nach Mattersburg kommt oder nach Vilnius, ob er Wahlen in Israel analysiert oder sich auf St. Petersburger Verhältnisse einlässt, sich auf den Stand der Dinge zu beschränken. Alles, was momentan der Fall ist, weist für ihn Zeichen der Vergangenheit auf. Wirklichkeit ist ihm etwas Gewordenes, deshalb fasst er auch die Gegenwart nur als Durchgangsstation in eine unbekannte Zukunft auf. "Dies wird nicht morgen und auch nicht übermorgen, aber hoffentlich in absehbarer Zeit der Fall sein." So schließt ein Essay mit der Prognose, dass sich die Litauer irgendwann einmal zu einer Mehrfachidentität bekennen werden.

Mehrere Daseinsformen

Diese Sicht auf eine Welt, die sich ihrer selbst nie gewiss ist und mit einem prekären, stets im Wandel befindlichen Gegenwartsgefühl abfindet, hängt gewiss mit seiner eigenen Identität zusammen, die sich nie im reinen Jetzt aufgehoben sieht. Als einer, der sich als Kind mit seinen Eltern auf eine Exil-Odyssee begab, die ihn nach Israel, Österreich, in die Niederlande, die USA und nach Italien führte, um vorläufig in Salzburg an ein Ende zu kommen, ist ihm fremd, dass jemand zu einem ungebrochenen, eindeutigen Ich zu stehen vermag. Er sieht sich gespalten in mehrere Daseinsformen mit wechselnden Mischungsverhältnissen. Einmal fühlt er sich mehr österreichisch, dann russisch oder jüdisch geprägt, aber festlegen lässt er sich nicht.

Aus dieser hybriden Existenzform entwickelt sich sein Denken, für das das Sich-Zurechtlegen eines Gegenstandes, um ihn genau und bedächtig von allen Seiten zu betrachten, nicht passt. Eine innere Unruhe pulst durch alle Texte Vertlibs, der weiß, dass eine Bestandsaufnahme, so präzise und treffend sie auch immer ausfallen mag, im nächsten Augenblick historisch ist. So schaut er vor und blendet zurück, sieht Ereignisse in ihrer Vorgeschichte und Wirkung, deutet Menschen als Gestalten, die aus der Vergangenheit kommen und der Zukunft zuarbeiten.

Vertlib geht als Historiker des Schreckens vor, um den Verheimlichern etwas entgegenzusetzen. Es gibt keinen Stadtteil und keinen Landstrich, wo er nicht von entfesselter Gewalt zu berichten wüsste. Das imprägniert ihn gegen Sorglosigkeit. Täter leben, häufig unerkannt, oft durch Zustimmung gedeckt, überall. Ungemütliche Texte zum Aufwachen!

Ich und die Eingeborenen. Essays und Aufsätze

Thelem 2012. 344 S., kart., € 22,70

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