Argentinien - © EPA/Leo La Valle

Im Schatten der Diktatur: Argentinien

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Argentinien hat von dokumentarischer bis zu fantastischer Literatur vieles zu bieten - auch Einblicke in die Grauen von Gestern, die bis heute wirken.

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Argentinien hat von dokumentarischer bis zu fantastischer Literatur vieles zu bieten - auch Einblicke in die Grauen von Gestern, die bis heute wirken.

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Die argentinische Literatur sieht zunächst aus wie ein Paradies: wie eine unendliche Bibliothek, eine Welt der Buchstaben und Möglichkeiten, die die ganze Spannbreite dessen zu umfassen scheint, was Literatur ausmachen kann. Vom Realismus bis zum selbstreflexiven poetischen Sprachkunstwerk, von der Kritik konkreter gesellschaftspolitischer Ereignisse bis zum Bezug auf andere literarische Werke reicht das Spektrum der seit dem sogenannten "Boom" weltweit bekannten Literatur. Kennzeichnend das dokumentarische Schreiben und Aufdecken, wie etwa "Das Massaker von San Martín" (Rotpunktverlag) von Rodolfo Walsh, der 1977 ermordet wurde. Prägend aber auch die Kriminalliteratur, spannend und verstörend wie die fantastischen Erzählungen, für die Argentinien ebenso bekannt ist wie für Kurzgeschichten, die hier zu besonderer Kunstfertigkeit gereift sind, wie der Band "Asado Verbal" (Wagenbach) oder die fantastischen Erzählungen von Samanta Schweblin, "Die Wahrheit über die Zukunft" (Suhrkamp), beweisen. Berühmt gemacht durch Jorge Luis Borges wurde schließlich auch jene Prosa, die nicht auf Weltereignisse, sondern auf andere oder erfundene Literatur Bezug nimmt. Sie kommt der fantastischen Literatur insofern nahe, als auch ihr die subversive Infragestellung - was ist Wirklichkeit, was Traum, was Imagination -innewohnt.

Die argentinische Literatur der Gegenwart greift auch diese Tradition auf und sie verweist auf so unterschiedliche Vorbilder wie Jorge Luis Borges und Julio Cortázar, wenngleich Borges wegen seiner politischen Einschätzung auch der Kritik ausgesetzt wird. Dass fantastische und intertextuelle Literatur aber nicht das Gegenteil von politischer Brisanz bedeuten, machen Texte wie jene von Luisa Valenzuela ("Feuer am Wort", Drava) eindrucksvoll deutlich. Der im Januar verstorbene Autor Tomás Eloy Martínez versucht in seinem Roman "Purgatorio" (S. Fischer) einiges aus dem Reichtum der argentinischen Literatur in einem Buch zu vereinigen: politischen Bezug, spannende Handlung, verstörende Begebenheiten, Verweise auf die Bedeutung von Literatur und auf andere Literatur, was mit dem Titel beginnt, der auf Dante zeigt.

Doch die argentinische Literatur sieht zugleich wie die Hölle aus. Zumindest was ihre Themen angeht. Literatur entsteht in der Welt der Autoren, und wie diese Welt - die Gegenwart, in der die Geschichte stets präsent ist - in Argentinien aussieht, kann man nicht überlesen in jenen Büchern, die nun auf deutsch erschienen sind: Sie führen in Höllen aus Angst und Gewalt. Nicht erst die letzte große Militärdiktatur der Jahre 1976 bis 1983 stürzte das Land in eine humane und politische Katastrophe, von der es sich bis heute nicht erholt hat. Schon davor erwies sich Argentinien als ein von Diktaturen, Folter, Gewalt und Willkür geplagtes Land. Dass es in der großen Wirtschaftskrise 2001/2002 den Staatsbankrott erklären musste, scheint nur ein weiterer Schritt in jener unheilvollen Geschichte. Von den Folgen für die Wohlstandsgesellschaft, die es sich abgeschirmt von den anderen gemütlich gemacht hatte, erzählt Claudia Piñeiro in ihrem Roman "Die Donnerstagswitwen"(Unionsverlag).

Putsch, Folter und Krieg

Dass sich die Literaten der Gegenwart thematisch oft auf die letzte Militärdiktatur beziehen, ist naheliegend, denn sie wirkt bis heute, wie der Roman "Purgatorio" erzählt. "Das argentinische Wesen ... auferstand in geheiligter Form. Gott, Vaterland, Familie, das waren die Worte, die auf den weißen Streifen der Fahne gehörten, unter die Sonne." Der Roman führt in die Zeit der Eliminierung der Subversiven durch die rechtskatholischen Kräfte und das Militär. Mit der Fußballweltmeisterschaft 1978 bemühte man sich um Reputation im Ausland. Sein Ende fand dieses dunkle Kapitel mit dem Falklandkrieg, den bereits 1982 der im August verstorbene Autor Rodolfo Enrique Fogwill in seinem Roman "Die unterirdische Schlacht" (Rowohlt) als Hölle malte: Desertierte argentinische Soldaten versuchen in unterirdischen Höhlen den Krieg zu überstehen.

Ein ganzes Land gräbt -und/oder schüttet zu. In der gleichnamigen Erzählung aus Guillermo Martínez' Band "Gewaltige Hölle" (Eichborn) wird ein Massengrab gefunden und auf Anordnung der Polizei wieder zugeschüttet. Der nicht zu beruhigende bellende Hund wird erschossen. In der Darstellung der geschehenen Gewalt stößt die Literatur an ihre sprachlichen Grenzen. "diefolter" nennt Martín Caparrós das, was er dann im Folgenden zu beschreiben versucht. Wie das System Täter und Opfer formt, erzählt beklemmend Martín Kohans in einem Elitegymnasium angesiedelter Roman "Sittenlehre" (Suhrkamp). Literatur wirft den Blick nicht nur auf die Opfer, sondern auch auf Lust und Langeweile der Peiniger. Martín Caparrós stellt in seinem Roman "Wir haben uns geirrt" (Berlin Verlag) zudem die provokante Frage nach der politischen Mitverantwortung. Der Protagonist, der Frau und ungeborenes Kind an die Folterer verloren hat, hält den Traum von einer gerechteren Welt für ausgeträumt. "Wir waren das große Versprechen -das schreckliche Versprechen -, und jetzt sind wir eine Galerie, durch die die Touristen spazieren und sich an dem ergötzen, was wir ungewollt erfunden haben: Tango, Steak, Fußball. Was wir wirklich wollten - sofern wir wirklich etwas wollten -, ist uns nie gelungen." Eine Klage über den Irrtum, das Land hätte den Sozialismus gewollt, und über die gegenwärtige Situation der Welt. "Die Armen werden immer ärmer, die Reichen immer reicher, die Mächtigen immer mächtiger. Wir irren umher wie blinde Hunde." Ein provokanter Roman über das verordnete Gedenken und - ein ehemaliger Militärpriester wird ermordet - über die Rache, "eine extreme Form des Erinnerns, eine verzweifelte Form, eine entschwindende Spur wiederzubeleben."

Was Caparrós seinen Protagonisten provokant vermelden lässt, greift das Wort der Worte auf: "desaparecidos, der einzige argentinische Beitrag zum globalen Wortschatz." In "Purgatorio" heißt es: "In diesen Zeiten verschwanden die Leute zu Tausenden ohne offensichtlichen Grund. Es verschwanden Botschafter, Geliebte von Hauptleuten und Admiralen, Inhaber von Firmen, nach denen die Generale gierten. Es verschwanden Arbeiter beim Verlassen der Fabrik, Landarbeiter vom fahrenden Traktor, Tote, die am Vortag beerdigt worden waren und sich aus den Gräbern heraus in Luft auflösten. Es verschwanden Kinder aus dem Bauch ihrer Mütter, und es verschwanden Mütter aus der Erinnerung ihrer Kinder. Menschen, die um Mitternacht krank in der Klinik ankamen, waren am nächsten Morgen nicht mehr da." Land und Literatur sind voll mit Verschwundenen und die Überlebenden leben im Fegefeuer.

Fegefeuer des Wartens

"Das Fegefeuer ist ein Warten, dessen Ende man nicht kennt." Auch so kann in "Purgatorio" der Titel verstanden werden. Emilia Dupuy wartet seit 30 Jahren auf ihren Mann. "Das geringste Aufblitzen eines Zweifels hätte sie erledigt, denn wenn der Ehemann tot war, so war der Vater der Schuldige, die Mutter seine Komplizin und sie die Tochter eines Mörderpaars." Verloren gegangen sind nicht nur geliebte Personen, sondern ist für viele auch die Heimat. "Aus dem Exil kommt keiner zurück. Was man verlässt, das verlässt einen."

Die Verschwundenen konfrontieren mit der Frage nach politischer Gerechtigkeit und Rache, an ihnen nährt sich das Schuldgefühl, überlebt zu haben. Und was haben die Überlebenden aus ihrem Leben gemacht, in den 30 Jahren Warten auf jene, die es nicht gibt?

"Was macht einen Menschen zu dem, was er ist?" Im argentinischen Kontext der zerstörten Identitäten bekommen die zeitlosen Themen der Literatur besondere Brisanz. María Teresa Andruetto versucht in "Wer war Eva Mondino?"(Rotpunktverlag) im Stil eines Untersuchungsberichtes die Unmöglichkeit darzustellen, auf diese Weise die Identität eines Menschen zu erkunden. Die wahre Identität der Menschen -sind das die Erinnerungen? Emilia, die Romanfigur in "Purgatorio", meint plötzlich, ihrem verschwundenen Mann wieder zu begegnen, er ist jung wie damals: "Nichts wird sie jetzt noch daran hindern, glücklich zu sein." Der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller, behauptet, die Kartografin Emilia kennengelernt zu haben, "weil ich mich für die Welt der Kartographen interessierte, die in ihrem Bestreben, die Wirklichkeit zu korrigieren, derjenigen der Romanciers so sehr gleicht." Rolle und Bedeutung der Literatur (auch als Antwort für das Fehlen) werden so in guter lateinamerikanischer Tradition eingespielt. "Wenn die Zeit die vierte Dimension des Raums ist, wer weiß, wie viele Dinge, die wir nicht sehen, im Raum der Zeit Platz finden, wie viele unsichtbare Wirklichkeiten."

Schwellen überschreiten

Raum und Zeit bzw. ihr Überschreiten sind auch Themen von César Airas schmalem Roman "Gespenster" (Ullstein). An einem Silvesterabend (an der Schwelle vom alten zum neuen Jahr), auf einer Baustelle, in der die chilenische Bauarbeiterfamilie wohnt, bis die Eigentümerfamilien einziehen werden (an der Schwelle, von dem, was gebaut ist, zu dem, was gebaut wird), tollen die Kinder und hängen ein paar Gespenster herum: Sie locken die älteste Tochter (an der Schwelle zur Erwachsenen) zum Fest, das heißt aber: zum Sprung. Aira hebt die Opposition Wirklichkeit versus Vorstellung auf, vermittelt die Dimensionen - und am Ende sehen Mensch und Gespenst einander in die Augen.

Erschütternd. Verwirrend. Literatur. "Die Arbeit des Schriftstellers ist gegen die Interpretation gerichtet", meint César Aira, Leopold Federmair zitiert ihn in seinem Essayband "Buenos Aires, Wort und Fleisch" (Klever). Das scheint auch Ricardo Piglia zu berücksichtigen, dessen Essays "Der letzte Leser" (Klever) Federmair übersetzt hat. In Piglias Kriminalroman "Ins Weiße zielen" (Wagenbach) ist der ermittelnde Kommissar den Behörden ein Dorn im Auge und wird ins "Irrenhaus" eingeliefert. Er aber weiß, dass entdecken heißt, "das, was noch niemand beachtet hat, auf eine andere Art zu sehen."

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