Im Sog der Bedrängnis

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Ehepaare, Kinder, Verwandte tummeln sich auf den Bühnen des Tiroler Landestheaters. Verdrängte Gefühle platzen, und irgendwann wird die Schamgrenze überschritten.

Am Innsbrucker Rennweg herrscht die Familie: Väter, Mütter, Kinder. Ein Streit, ein Rückfall, ein Geburtstag wird ihnen zur Ausnahmesituation. Da stoßen sie Türen auf, ewig gleiche psychische Strukturen geraten außer Kontrolle, die Erkenntnis der Entwurzelung ist nicht mehr zu ertragen. Sie können keine Nähe geben, nur suchen.

In Yasmina Rezas "Der Gott des Gemetzels" (Regie: Christine Wipplinger) halten sich zwei Ehepaare, deren Buben sich prügelten, für zivilisiert genug, um den Konflikt offen auszutragen. Unter Witz und Pointe bricht das dünne Eis der Umgangsformen. In der Familie des schwedischen Hoteliers Helge Klingenfeldt-Hansen dagegen verzahnt sich die Familie zu einem dichten Verdrängungsnetz, schwarze Schafe werden an den Baum gefesselt. Thomas Vinterbergs "Das Fest" thematisiert eine über der Lebenslüge unaufhaltsam aufsteigende Wahrheit, und es geht um mehr als ein paar ausgeschlagene Bubenzähne: Helge, der im Landhotel seinen 60. Geburtstag feiern lässt, Vater von vier Kindern, hat einst Tochter und Sohn missbraucht. Der erwachsene Sohn kehrt zum Fest heim, um den Vater anzuklagen. Seine Schwester hat sich umgebracht.

Entlarvte Lebenslüge

Wie üblich konzentrieren sich die Aggressionen auf den Überbringer der schlechten Nachricht, bis der Abschiedsbrief der Toten die Verdrängung zerschlägt. Helge wird ausgegrenzt. Karl-Heinz Steck stellt bei gleißender Helle eine festliche Tafel auf die Bühne des Großen Hauses, und Michael Gampe inszeniert um diesen Familientisch herum ein glamouröses Fest als einen Sog der Bedrängnis. Stück für Stück wird der Täter dabei isoliert. Bernd Jeschek nimmt die schreckliche Rolle des Helge auf sich. Er ist gut, aber wie einst im Kindertheater möchte man die Figur, die einem so negativ nahetritt, ausbuhen. Rund um ihn das verschweißte Schauspielensemble, aus dem Frank Roeder als zutiefst verletzter Christian ragt.

Unfähigkeit zu lieben

Desorientierung, Verzweiflung, Zerstörung in hyperrealistischem Format herrscht in den Kammerspielen bei Lars Noréns "Nacht, Mutter des Tages". Martin, Besitzer eines kleinen Hotels, ist finanziell und mit seinen Kräften am Ende, der Säufer hat nach einer Trockenphase wieder Durst. Das alte Lied: Nüchtern ist er ein Weichling, besoffen eine Bestie. Seine kranke Frau vermag sich nicht von ihm zu trennen. Sie Söhne reagieren verschieden: Der aggressive Georg erhebt die Hand gegen den Vater, der halbwüchsige David bettelt um Zuwendung und ersticht in einem Tagtraum die Mutter. Vier Menschen leiden bis aufs Blut unter ihrer Einsamkeit und der Unfähigkeit zu lieben. Jeder ist auf sich selbst reduziert und dem anderen ausgeliefert. Auch diese Orgie physischer und psychischer Gewalt, von Regisseur Heinz Oliver Karbus schonungslos seziert (Bühne: Julia Scheeler, Helfried Lauckner), strapaziert den Zuschauer. Klaus Rohrmoser spielt den Martin mit Mut und Emotion erschreckend glaubhaft. Judith Keller nimmt sich als Mutter Elin zum Vorteil der Rolle zurück, stark Sebastian Hofmüller und Benjamin Ulbrich als Brüder, die nur im Jazz zueinanderfinden. Zwei Mal die Nacht nicht als Mutter, sondern als Totengräber des Tages.

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