Im Sog der Virtualität

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Manfred Spitzers Buch "Digitale Demenz“ lässt kein gutes Haar an modernen Technologien. Deren Nutzung lässt uns verdummen, erkranken und sozial erkalten, so Spitzers Thesen.

Je stärker der Feind, desto löblicher der Sieg. Sofern sich Manfred Spitzer von diesem Credo leiten lässt, strebt er nach besonders großem Lob. Denn der bekannte Psychiater und Hirnforscher hat sich in seinem neuen Buch keinen geringen Gegner als die Welt der modernen Technologien ausgesucht. Von Smartphones über Navigationsgeräte bis zum Internet kriegen alle ihr Fett ab. Kernthese von Spitzers Rundumschlag: Digitale Technologien nehmen uns immer mehr Geistesarbeit ab, das Gedächtnis bleibt so unterbeschäftigt. Dies führe zu einer sukzessiven Rückbildung unseres Gehirns, zum Verfall kognitiver und sozialer Kompetenzen, kurz: zur Verdummung. Dafür hat Spitzer den schillernden Begriff "Digitale Demenz“ gefunden.

Mehrere wissenschaftliche Studien legen einen Zusammenhang zwischen geistiger Tätigkeit und Gehirnstruktur nahe. So haben etwa Londoner Taxifahrer einen größeren Hippocampus als Vergleichsgruppen, die nicht täglich mit anspruchsvoller Großstadtnavigation konfrontiert sind. Das ist für Spitzer ein zentraler Befund. Denn der Hippocampus gehört nicht nur zu den wenigen Regionen des menschlichen Hirns, die Nervenzellen neu bilden können. Er spielt auch eine wesentliche Rolle beim Lernen. "Je oberflächlicher ich einen Sachverhalt behandle, desto weniger Synapsen werden im Gehirn aktiviert“, schreibt der Autor. "Digitale Medien und das Internet wirken sich daher negativ auf das Lernen aus.“

Streitfrage Computer im Unterricht

Kritisch bewertet Spitzer sämtliche Initiativen, digitale Geräte im Schulunterricht zu etablieren. In den USA schafft die Obama-Administration derzeit die rechtlichen Voraussetzungen für eine flächendeckende Verbreitung elektronischer Lehrbücher. In Österreich testen bereits einige Schulen Tablet-PCs oder iPads im Unterricht. Verschiedene Studien zeigen, dass der Einsatz solcher Geräte nicht automatisch zu besserem Lernerfolg führt. Aber auch nicht notwendigerweise zu schlechterem. Die besten Resultate bringen moderne Technologien, wenn ihre Nutzung vom Lehrpersonal kompetent begleitet wird. Zwar sei es ermüdender, Text auf einem Display zu lesen, argumentierten die Psychologen David Daniel und Daniel Willingham kürzlich im Wissenschaftsmagazin "Science“. Auch können multimediale Inhalte und das Folgen von Hyperlinks die Konzentration beeinträchtigen. Doch bieten elektronische Lehrbücher substanzielle Vorzüge. Etwa automatische Updates der Inhalte oder raschen Zugriff auf vertiefende Informationen via Internet. "Es ist eine Sache, über den Fall der Berliner Mauer zu lesen“, schreiben die Wissenschaftler. "Aber eine völlig andere, ein Video davon zu sehen.“ Davon will Spitzer nichts wissen. Mit gehöriger Polemik vergleicht er digitale Technik im Klassenraum mit gratis Drogen für Kinder: "Bei digitalen Medien im Kindergarten und in der Grundschule handelt es sich in Wahrheit um eine Art von anfixen.“

Die Probleme liegen weniger in der Technologie als im Umgang damit. Wohl bekannt ist etwa der negative Einfluss von Computerspielen auf die schulische Leistung. Der Grund: Die Kinder verbringen weniger Zeit mit lernen, schlafen weniger, sind dadurch müde und weniger aufnahmebereit. Spitzer zitiert eine - allerdings schon acht Jahre alte Studie - wonach Schülerinnen und Schüler, die einige Male pro Monat einen Computer benutzen, bessere schulische Leistungen erbringen als solche, die nie am Rechner sitzen. Bei mehrmaligem Computergebrauch pro Woche sinkt der Schulerfolg allerdings rasant ab. Auch im Zeitalter des eLearnings gilt also: alles mit Maß und Ziel.

Der gefürchtete "Google-Effekt“

Ein Verdienst Spitzers ist es, klar zu machen, dass neue Technologien nachhaltige Veränderungen unserer kognitiven Prozesse bedingen können. Als Beleg beschreibt er die Experimente eines amerikanischen Psychologenteams: Es führte mit seinen Versuchspersonen verschiedene Gedächtnistests durch. Die überraschenden Resultate ergaben, dass sich die Probanden Informationen schlechter merken, wenn sie glauben, dass diese gespeichert und damit jederzeit abrufbar sind. Zudem waren die Versuchspersonen erfolgreicher darin, sich den Ort einer abgespeicherten Information zu merken, etwa einen bestimmten Ordner am Computer, als deren Inhalt. Das Internet übernimmt demnach zusehends die Funktion eines externen Speichers, auf den Gedächtnisleistung ausgelagert wird. Für Spitzer ist dieser sogenannte "Google-Effekt“ ein klares Indiz für die Verdummung der Menschen. Das sehen nicht alle Experten so.

"Warum soll ich mir etwas merken, das ich nachschlagen kann?“, fragte der Psychologe Roddy Roediger kürzlich in "Science“. "Früher haben wir Enzyklopädien konsultiert. Heute können Studierende das vom Computer aus tun. Ist das schlecht? Ich denke nicht.“ "Digitale Demenz“ ist seinem Geist nach ein zutiefst pädagogisches Buch, seiner Form nach eine polemische Kampfschrift. Der schwerste Mangel dieses Sachbuchs: Spitzer suggeriert an zahlreichen Stellen, dass es keine plausiblen Alternativen zu seinen Positionen gibt. Trotz halbherziger Beteuerungen im Vorwort gelingt es dem Autor nicht, den Verdacht fanatischer Technologiefeindlichkeit zu entkräften. Etwas enttäuschend fällt auch Spitzers abschließender Ratschlag an all jene aus, die ihr Gehirn trainieren möchten: "Machen Sie mit Ihrem Enkel einen Spaziergang im Wald.“ Übrigens: Spitzers Buch ist auch als eBook erhältlich.

Digitale Demenz

Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen,

Von Manfred Spitzer, Droemer Verlag 2012.

368 Seiten, gebunden, € 20,60

Tipp: Waldviertel Akademie

"Schöne neue Welt? - Wie der Computer unser Leben verändert“ lautet das Thema der Sommergespräche 2012 von 30. 8. bis 2. 9. in Weitra. Experten diskutieren Themen wie "Der digital entmündigte Mensch“, "Internet und Demokratie“, "Overnewsed & underinformed“, "Auswirkungen der Neuen Medien auf Bildung“ oder "Gewaltprävention rund um Handy und Internet“.

www.waldviertelakademie.at

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