In bisher unbekanntes Gelände

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Maxim Harezkis 1919 erschienener großartiger Roman "Zwei Seelen" bringt Farbe in jenen blinden Fleck zwischen Polen und Russland, wo Weißrussland liegt.

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Maxim Harezkis 1919 erschienener großartiger Roman "Zwei Seelen" bringt Farbe in jenen blinden Fleck zwischen Polen und Russland, wo Weißrussland liegt.

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An der räumlichen Distanz jedenfalls kann es nicht liegen. Per Luft linie beläuft sie sich zwischen Wien und Minsk auf fast die gleichen gut tausend Kilometer wie nach Paris. Viel länger braucht man bis London, Stockholm oder Athen, von Madrid und Lissabon ganz zu schweigen. Und doch: wie man in Weißrussland lebt, denkt, und welche Wurzeln dies hat, wissen wir im Gegensatz zu den entlegeneren Orten nicht. Belarus, im deutschen Sprachgebrauch früher "Weißruthenien", ist eine unbekannte Welt abseits dessen, was wir unzulässig als "Europa" verkürzen. Geschichte und Kultur dieses blinden Flecks zwischen Polen und Russland scheinen uns auch herzlich wurscht zu sein.

Die Literatur vermöchte hier wohl Einblicke zu stiften. Doch gibt es wohl keinen Rezensenten, der, auf konkrete Namen und Texte angesprochen, nicht mit Achselzucken reagieren würde. Ihnen deswegen Vorwürfe zu machen, wäre jedoch ungerecht, da es zumal von den Klassikern dieser erst seit etwas mehr als hundert Jahren "dichtungsfähigen" Sprache auf Deutsch kaum etwas zu lesen gab. Desto erfreulicher, dass der frisch gegründete Berliner Guggolz Verlag das unbekannte Gelände auszuleuchten beginnt, mit einem Text überdies, dem für die weißrussische Literatur nachgerade programmatische Bedeutung zukommt.

Ausgewiesen aus der Heimat

"Schreiben", äußerte dessen Verfasser Maxim Harezki gesprächsweise einmal, "muss man über Eigenes, Bekanntes, Vertrautes, so dass jeder es sehen und lieb gewinnen kann. Über sein eigenes Land muss man schreiben, es ist uns allen doch das Liebste. Ist es nicht so?" Dem 1893 bei Mahiljou im östlichen Teil des Landes als Bauernsohn Geborenen ist diese Zuneigung zum Verhängnis geworden. Früh für die heimische "Wiedergeburts"-Bewegung engagiert, wurde der vermeintliche kommunistische Agent 1922 im polnisch besetzten Teil seiner Heimat inhaftiert und ausgewiesen. 17 Jahre später erschoss man ihn in Stalins Sowjetunion als weißrussischen Patrioten. Über sein literarisches Schaffen hinaus war Harezki ein fruchtbarer und vielseitiger Autor. Sein (in der Übersetzung vorzüglich lesbares!) Hauptwerk ist der kurze Roman "Zwei Seelen". 1919 erschienen, handelt es sich dabei um eine kaleidoskopartig aufgebaute Innenansicht jener turbulenten Zeitspanne zwischen der Katastrophe des Ersten Weltkriegs und den auf Weißrussland ausgreifenden Ereignissen im Gefolge der Oktoberrevolution. Der Titel bereits schlägt das Leitmotiv des Zwiespalts an. Beispielhaft entfaltet wird es durch Werdegang und Charakter der Hauptfigur, Ihnat Abdsiralowitsch, vornehmer Herkunft scheinbar, in Wirklichkeit aber "Sohn dieser schwarzen Menge", vom Offizier der zaristischen Armee in "sowjetische Dienste" überwechselnd, mit "hälftigem" Verständnis für die beiden verfeindeten Seiten der "Weißen" und der "Roten", als notorischer Zweifler zur Liebe nicht geeignet. In der Schule wie ein "ganz normaler 'Russe'" erzogen, müht er sich lange erfolglos herauszufinden, ob er jeweils gerade "weißruthenisch oder moskowitisch" denkt. Höchst zögerlich nur legt er sich auf ein Identitätsmodell im Zeichen von heimatlicher "Selbstbestimmung" und sozialrevolutionärem Bewusstsein fest. Für manche Aktivisten einer bloß staatlich-kulturellen Neubelebung bleibt er gleichwohl ein "Renegat". Das durch die Besitzenden unterdrückte und verelendete einfache Volk aber ist "für Frieden und Boden mehr interessiert" als für nationale Bestrebungen.

Ironie und Schwermut

Adelige und Kriegsgewinnler, Militärs, Lehrer und Bauern, Studenten und Mönche kreuzen direkt oder indirekt Abdsiralowitschs Weg. Als Überzeugungstäter, Opportunisten, heimliche Agenten verdichten diese Sozialcharaktere, in sich selbst weiter ausdifferenziert, im Tiefsten einander fremde Spiegelbilder und Zwillinge allenthalben, das Panorama von Zerrissenheiten, Widersprüchen und Verwerfungen der weißrussischen Wirklichkeit zu einer höchst undurchsichtigen und labilen Gemengelage. Entlang verschiedener "Demarkationslinien" ist das Land geteilt: polnische Besatzung in den westlichen Landesteilen -wo sich zeichenhaft einer der fürstlichen Peiniger der Bauern tummelt -, blutige "Diktatur" der bolschewistischen Sowjetrepublik im Osten; "katholisch" hier, "mit dem moskowitischen identischen orthodoxen Glaubensbekenntnis" dort; "russifizierte" Städter und weißruthenische Landbevölkerung. (Zu diesen Grundlagen hält ein Anhang weitere Informationen bereit.) Der offene Schluss des Romans macht wenig Hoffnung. "Düster und erhaben wie das Schicksal" inszeniert er die Beerdigung des ermordeten obersten Sowjetkommissars als makabres Fest des Todes.

Ein redseliger Erzähler ist Harezki nicht, im Gegenteil. Nichts wird breit gewalzt, manches gleichsam nur hingetupft. Auf engstem Raum versteht er die Tonlagen so zu wechseln, dass man sich der faszinierenden Eigenart dieses Stils nur schwer entziehen kann, dem ein drastischer Realismus -mit den Höhepunkten der Beschreibung eines "Nachtasyls" und der bolschewistischen Schreckensherrschaft - ebenso zu Gebote steht wie stimmungsvolle Schilderungen der Natur, der Ironie und Schwermut, distanzierte Beobachtung, schneidende Kritik und verhaltenes Pathos ineinander übergehen lässt. Hinter der Komplexität der aufgeworfenen Themen steht die Art und Weise ihrer Vergegenwärtigung nicht zurück. Darin besteht nicht nur der Vorzug dieses Textes sondern auch sein fortwirkender Denkanstoß.

Den Namen Maxim Harezki sollten wir auf unserer Landkarte der europäischen Literatur hinfort respektvoll markieren.

Zwei Seelen

Roman von Maxim Harezki

Aus dem Weißrussischen von Norbert Randow und Gundula und Wladimir Tschepego. Nachworte von Martin Pollack und Andreas Tretner.

Guggolz 2014. 223 S., geb., € 20,-

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