In den Dolomiten wird es laut

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Die Südtiroler Tageszeitung „Dolomiten“ stellt sich in einer großangelegten Serie der Auseinandersetzung mit der faschistischen und nationalsozialistischen Zeit. Damit soll nachgeholt werden, was andernorts seit Jahrzehnten für heftige Kontroversen sorgt.

„Der Verherrlichung von Liktorenbündel, Hakenkreuz und Gewaltherrschaft darf eine demokratische Gesellschaft nicht tatenlos zusehen“, schreibt der Chefredakteur der Südtiroler Tageszeitung Dolomiten, Toni Ebner, in der Neujahrsausgabe. Er eröffnet mit seinem Kommentar eine Auseinandersetzung mit der faschistischen und nationalsozialistischen Ära, die sich über das ganze Kalenderjahr erstrecken soll. „Zeitgeschichte: Verzeihen ja, vergessen nein“ lautet die Artikelserie, die jeden Samstag fortgesetzt wird und rege Reaktionen auslösen soll.

Für die deutschsprachige Bevölkerung der italienischen Provinz Bozen ist diese Aktion, die die Zeitung mit wissenschaftlicher Unterstützung startet, ein Novum. „Vergangenheitsbewältigung“ gab es in Südtirol bisher so gut wie nicht. Jetzt kommen die rund 300.000 deutsch sprechenden Einwohner der Provinz als Nachzügler eines Prozesses daher, der in vielen Staaten schon längst den Höhepunkt überschritten hat. Ob es Verdrängung oder bloß geschickte Vermeidung war, über die Hitler-Mussolini-Ära möglichst wenig zu reden – die Folgen sind besorgniserregend. Sowohl Jugendliche als auch Angehörige der älteren Generation liefen neuerdings totalitären Ideen nach, schreibt Ebner. „Was bis vor wenigen Jahren noch verpönt war, wird langsam aber sicher wieder salonfähig.“

Eklat um „Tag der Befreiung“

Einen aufsehenerregenden politischen Fall gab es 2009. Oswald Ellecosta, Vizebürgermeister der Hauptstadt Bozen auf der Liste der Südtiroler Volkspartei (SVP), stellte den in Südtirol als „Tag der Befreiung vom Faschismus“ gefeierten 25. April 1945 in Frage. „Wenn wir schon von Befreiung reden, dann sollten wir den 9. September 1943 nennen. Damals sind die Deutschen einmarschiert, sie sind von den Südtirolern mit Blumen empfangen worden.“ An dem Tag sei „die deutsche Kultur“ nach Südtirol zurückgekehrt. Ellecostas merkwürdiger Vorstoß in die faschistische Vergangenheit löste zwar heftige Widersprüche und eine intensive Debatte aus, doch gab es keine politischen Konsequenzen. Der SVP-Politiker ist noch immer Vizebürgermeister. Mit seinem provokanten Statement trifft er freilich mitten in den komplexen Überlebenskampf der im Friedensvertrag von Saint-Germain 1919 von Österreich abgespaltenen und Italien zugeschlagenen Südtiroler Volksgruppe. Schon 1923 hatte Ettore Tolomei im Auftrag der italienischen Regierung ein Programm zur Italienisierung der Provinz ausgearbeitet, das auf die Vernichtung der Kultur der Deutschsprachigen hinauslief. Italienisch wurde alleinige Unterrichtssprache. Unter diesem Druck war es fast unvermeidlich, dass Teile der Bevölkerung in späteren Jahren von den Glanzprodukten der Propaganda des deutschen Reiches angezogen wurden.

Zwischen Skylla und Charybdis

Allerdings zeigte sich bald, dass den Südtirolern nur den Gang zwischen Skylla und Charybdis offenstand, also zwischen Benito Mussolini in Italien und Adolf Hitler in Deutschland. Die beiden Machthaber sonderten 1943 ein giftiges Sekret ab: die Optionsregelung. Ihr Zweck war die Aussiedlung, also Zerstörung der deutschsprachigen Volksgemeinschaft Italiens. Den damals rund 250.000 Deutschsprachigen wurde die „Option“ angeboten, nach Deutschland zu übersiedeln oder – falls sie dennoch in Italien bleiben wollten – sich der Italienisierung zu unterwerfen. Mehr als 80 Prozent der Südtiroler optierten für Deutschland, de facto siedelten aber nur 75.000 aus. Das Kriegsende erledigte die Optionspolitik, verschärfte aber das Südtirol-Problem.

Dolomiten-Chefredakteur Ebner hält es nachträglich für taktisch völlig richtig, dass sich die Südtiroler nach dem Ende des faschistischen Zaubers ausschließlich der Gegenwart zuwandten und über das, was war, nicht lange diskutierten. „Wir haben über die Vergangenheit nicht geredet, weil für uns das Überleben der Volksgruppe Priorität hatte.“ Es kam also nicht zum ideologischen Grabenkrieg. Stattdessen erkämpften sich die Südtiroler mit Rückendeckung Österreichs und der Vereinten Nationen 1969 ein Autonomiestatut, das weltweit als eines der besten Modelle für den Umgang mit ethnischen Minderheiten hergezeigt wird. Für die Südtiroler und vor allem deren junge Generation ist der vor vierzig Jahren von Landeshauptmann Silvius Magnago nach wilden internen Streitereien durchgesetzte Kompromiss mit dem italienischen Staat so selbstverständlich geworden, dass sie manchmal überhaupt nicht erkennen, woher die wirtschaftlichen und kulturellen Privilegien kommen, die die Provinz Bozen seit damals genießt – zum Neid mancher rein italienischen Regionen des Staates.

Die Gefahr, dass die einstmals bis hin zu Terrorakten wehrhafte Bevölkerung in eine reine Konsumgesellschaft ohne sichere Wurzeln abrutscht, hat die Dolomiten als meinungsführendes Organ der deutschsprachigen Südtiroler jetzt zum systematischen Gegensteuern veranlasst. Ebner will mit der sachlichen Aufklärung über die Zeitgeschichte nicht nur die breite Bevölkerung erreichen, sondern vor allem auch die Lehrer und Lehrerinnen. Sie sollen die Instrumente erhalten, um über die Nazi-Ära kompetent Auskunft geben zu können.

Dass diese Aufarbeitung düsterer Ereignisse der Hitler-Mussolini-Zeit nicht ohne Schmerzen verlaufen wird, ist klar und auch aus Ebners Leitartikel vom 2. Jänner herauszulesen. Er macht seine Landsleute aufmerksam, „dass die beiden Diktaturen nicht nur Opfer gefordert haben, sondern dass viele Südtiroler auch Täter waren“.

Der erste historische Artikel der Serie befasst sich mit den Anfängen und der Konsolidierung von zwanzig Jahren Faschismus in Südtirol. Der Lehrer Franz Innerhofer wird als erstes Opfer der „schwarzen Diktatur“ ausgeschildert. Er wurde 1921 von faschistischen Schlägern ermordet.

Tief greifender Wandel in Südtirol

Der 1956 gestorbene Kanonikus Michael Gamper wird in der historischen Aufarbeitung nicht nur einmal als historische Persönlichkeit hervorstechen, die in der Volkstumsfrage über jeden Zweifel erhaben ist und zugleich Widerstand gegen die Diktatoren organisierte. In dem Artikel kommt er folgerichtig auch schon vor: „Der geheime Deutschunterricht in den ‚Katakombenschulen‘, der maßgeblich von Kanonikus Michael Gamper aufgebaut wurde, war aber durchaus erfolgreich und ist das signifikanteste Beispiel gelungener Südtiroler Resistenz.“ Gamper agitierte massiv gegen die „Option“ und gegen Diktatoren diesseits und jenseits des Brenners, musste 1943 untertauchen und sprach sich 1945 in Memoranden an die Siegermächte für eine Rückkehr Südtirols zu Österreich aus.

Die plötzlich ausbrechende „Vergangenheitsbewältigung“ ist nur eines von mehreren Zeichen tief greifender Veränderungen in der Südtiroler Gesellschaft. Politisch hat es schon bei der letzten Landtagswahl im Oktober 2008 ein Erdbeben gegeben. Die Südtiroler Volkspartei, die seit 1948 ununterbrochen die absolute Mehrheit im Land gestellt hatte, büßte sie prozentmäßig ein: Sie errang 48,1 Prozent der Stimmen, behielt aber im Landtag mit 18 von 35 Sitzen die absolute Mehrheit. Zweitstärkste Partei wurden mit 14,3 Prozent die Freiheitlichen, aber auch Splittergruppen zogen in den Landtag ein. Die parteipolitische Stabilität scheint ins Wanken zu geraten.

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