In den Lebensabend tanzen

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In einer Gesellschaft mit Jugendwahn haben es ältere Menschen nicht leicht. Deshalb sollte man sich schon während des Berufslebens auf die Pension vorbereiten. Reflexionen eines Alternsforschers.

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In einer Gesellschaft mit Jugendwahn haben es ältere Menschen nicht leicht. Deshalb sollte man sich schon während des Berufslebens auf die Pension vorbereiten. Reflexionen eines Alternsforschers.

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Im Englischen gibt es viele Beispiele dafür, dass ein komplexer Sachverhalt in einem kurzen, prägnanten Begriff verpackt werden kann. "Ageism" ist ein solches Wort, das in Deutsch mit dem viel sperrigeren und nicht ganz kongruenten Ausdruck "Altersdiskriminierung" übersetzt werden kann. Das angelsächsische "Ageism" umfasst aber nicht nur die Tatsache der Diskriminierung alter Menschen in unserer Jugend-orientierten Gesellschaft, sondern noch viele andere Aspekte des Älterwerdens, unter anderem auch das oft verminderte Selbstwertgefühl alter Menschen, für die der frühere Sinn des Lebens verloren gegangen ist.

Zum Zeitpunkt des Abfassens dieses Essays trete ich gerade in mein achtzigstes Lebensjahr ein - bin also mit dieser Thematik persönlich konfrontiert und mache mir bei einsamen Schneeschuhwanderungen Gedanken über meine eigenen Erfahrungen mit "Ageism". In meinem Fall besteht außerdem die spezielle Situation, dass ich ein Wissenschaftler bin, der sich beruflich mit der Alternsforschung, Gerontologie, beschäftigt und auch als Herausgeber von Gerontology, der ältesten Zeitschrift auf diesem Fachgebiet, fungiert. Ich werde also nicht nur mit meinem eigenen Alterungsprozess und meiner eigenen Reaktion darauf, sowie der Reaktion meiner Umgebung auf meine altersbedingten Veränderungen konfrontiert, sondern habe täglich mit Spitzenforschung auf allen Gebieten der Gerontologie zu tun.

Wie kam es dazu, dass heute alte Menschen den Eindruck haben, diskriminiert zu werden oder wirklich Diskriminierungen ausgesetzt zu sein? Im Folgenden möchte ich versuchen, einigen der Ursachen des "Ageism" auf den Grund zu gehen.

Phasen des menschlichen Lebens

Im Jahr 1900 war die mittlere Lebenserwartung in Österreich -für Frauen und Männer kombiniert -49 Jahre. 2018 betrug sie für Frauen, das heißt jetzt geborene Mädchen 86,2 Jahre, für Männer 81,4 Jahre. Ein Hauptgrund für dieses Phänomen war allerdings die um die vorletzte Jahrhundertwende noch sehr hohe Kindersterblichkeit, die seither durch verbesserte medizinische und sozioökonomische Lebensumstände auf ein Minimum abgesunken ist. Vor allem Impfungen und Hygiene haben aus medizinischer Sicht dazu beigetragen.

Aber selbst unter Berücksichtigung dieser Tatsache haben damals die meisten arbeitenden Menschen nach dem eventuellen Erreichen des Pensionsalters nicht mehr sehr viele Lebensjahre im Ruhestand vor sich gehabt. Heute leben die Menschen also nicht nur länger, sondern gehen -paradoxerweise -auch früher in Pension als um 1900. Sie haben also nach dem Ende ihrer beruflichen Tätigkeit im Schnitt noch circa 20 Lebensjahre vor sich. Soziologen teilen das menschliche Leben in vier Phasen ein: das sogenannte erste Alter umfasst den Zeitraum von der Geburt bis zum Abschluss der Ausbildung, das zweite Alter den Zeitraum der Berufstätigkeit. Das dritte Alter ist jener Abschnitt nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben, das wir heute durch die oben erwähnten zivilisatorischen Errungenschaften meist noch in guter geistiger und körperlicher Verfassung erleben. Und das vierte Alter ist jenes, in dem der Mensch mit zunehmend ernsteren Beschwerden konfrontiert ist und schließlich stirbt.

Wir wünschen uns natürlich alle, dass das vierte Alter möglichst kurz, schmerzlos und würdevoll verläuft. Ein wesentlicher Faktor für ein "gutes, erfolgreiches" Altern ist aber die bewusste Gestaltung des dritten Alters. Und dafür ist es unumgänglich, sich bereits im zweiten Alter auf das dritte vorzubereiten. In den meisten Fällen fehlt es an einer derartigen Lebensstrategie, und viele Pensionisten fallen plötzlich in ein tiefes, durch mangelndes Selbstwertgefühl bedingtes Loch. Hier spielt die lebenslange Einstellung zur Arbeit natürlich eine wesentliche Rolle. Es gibt nämlich viele Menschen, die nur arbeiten, um Geld zu verdienen, um das eigentliche Leben in die Freizeit zu verlagern. Aus dieser Ecke kommen dann zwar lustig gemeinte, aber dem "Ageism" natürlich zuträgliche Sprüche wie "Arbeitest Du noch oder lebst Du schon?"(Helen Duphron). Diese relativ große Gruppe von Alten hat -aus welchen Gründen auch immer - den ursprünglichen Beruf verfehlt, trägt in den Augen der Jüngeren nichts oder nicht mehr viel zum Wohl der Gesellschaft bei und darf sich über Altersdiskriminierung nicht wundern. Sie kann jüngeren Mitgliedern auch nur schwer erklären, warum sie ein gleichwertiges, unterstützenswertes Segment der Bevölkerung darstellen sollte.

Eine zweite Gruppe umfasst jene Menschen, die um der Karriere willen arbeiten, also um irgendwann irgendwohin zu kommen. Die Alten aus dieser Gruppe sind besonders gefährdet, im höheren Alter einen Sinn-und Werteverlust zu erleiden, da der beruflich erreichte Status von einem Tag auf den anderen verloren gegangen ist. Hier ist es vor allem die Enttäuschung über die schnelllebige Zeit, die die Bruchstellen zwischen der vorstürmenden Aktivität der Jungen und der Frustration der Alten so offensichtlich zu Tage treten lässt und dem "Ageism" in die Hände spielt.

Bei einer dritten -allerdings der kleinsten - Gruppe handelt es sich um Menschen, die den Beruf als Berufung auffassen, also eine Tätigkeit, die man um ihrer selbst willen ausübt. Wie in den anderen beiden Gruppen findet man solche Menschen in allen Berufen, aber diese Mentalität ist bei Wissenschaftlern und Künstlern in besonders hohem Maße anzutreffen. In dieser Gruppe befinden sich auch die meisten Menschen, die bis ins hohe Alter ihrer beruflichen Leidenschaft frönen und noch viel zum eigenen Wohl und dem der Allgemeinheit beitragen. Auch Probleme des "Ageisms" sind hier seltener zu beobachten -sowohl hinsichtlich des Selbstwertgefühls als auch der Anerkennung durch die Jungen.

Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass längeres Arbeiten nicht nur volkswirtschaftliche Vorteile -etwa durch Einsparungen auf dem Pensionssektor -bringt, sondern auch die beste Möglichkeit bietet, gesund und aktiv älter zu werden. Das komplexe Problem des "Ageism" erfordert natürlich die Einbeziehung zahlreicher anderer kultureller Faktoren, aber die Einstellung zur Arbeit und die daraus resultierende Gestaltung des dritten Lebensalters stellt einen der wichtigsten Grundpfeiler für künftige Diskussionen dieses wichtigen Themas dar.

Kristalline Intelligenz

Angesichts der auf alle Gesellschaften zukommenden Überalterung muss daher eine neue "Philosophie der Arbeit" entwickelt werden, die vor allem auch die Umstände berücksichtigt, die durch die zunehmende Technisierung verschiedenster Arbeitsprozesse geschaffen werden. Jeder einzelne Mensch bewältigt das tägliche Leben durch Verwendung seiner kristallinen Intelligenz, also des auf seiner "Festplatte" gespeicherten Verfügungswissens, sowie seines Orientierungswissens, das immer neu durch fluide Intelligenz erworben wird. Genauso sollten auch die sogenannten Alten in der Gesamtgesellschaft als deren kristalline, auf Erfahrung beruhende Intelligenz betrachtet werden, während die Jungen unser fluides Orientierungswissen darstellen, das in hohem Tempo laufend "upgegradet" wird. Für eine gemeinsame Zukunft werden wir beides brauchen. Aber wir müssen zur gesamten Gesellschaft auch im Alter noch einen aktiven Beitrag leisten.

Der Autor ist em. o. Prof. an der Univ. Innsbruck und war Gründungsdirektor des ÖAW-Instituts für Biomedizinische Alternsforschung sowie Präsident des FWF

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