"In den Menschen steckt eine große Kraft"

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Seit knapp einem Jahr, als für die nordsyrische Metropole Aleppo ein Waffenstillstand verkündet wurde, ist die Lage für die in der Stadt Ausharrenden ein wenig besser geworden. Dennoch, erzählt Sr. Anni Dermerijan, ist der Alltag in der Stadt ein Kampf ums Überleben. | Das Gespräch führte Otto Friedrich

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Seit knapp einem Jahr, als für die nordsyrische Metropole Aleppo ein Waffenstillstand verkündet wurde, ist die Lage für die in der Stadt Ausharrenden ein wenig besser geworden. Dennoch, erzählt Sr. Anni Dermerijan, ist der Alltag in der Stadt ein Kampf ums Überleben. | Das Gespräch führte Otto Friedrich

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Schwester Anni Demerijan arbeitet in Aleppo. Anlässlich eines Wien-Aufenthaltes sprach die FURCHE mit der Ordensfrau über das (Über-)Leben in der nordsyrischen Metropole

Die Furche: Zurzeit liest man in den Medien, die Kämpfe in und um Aleppo seien zurückgegangen.

Sr. Anni Dermerijan: Seit September 2016 erleichtert der Waffenstillstand die Lage ein wenig. Die syrische Armee versucht, die meisten Gebiete rund um Aleppo zu kontrollieren. Deshalb gab es von Seiten der Rebellen weniger Bomben und Granaten. Dennoch ist das alltägliche Leben für die Menschen eine Herausforderung. Es gibt kleine Projekte, wo ein paar Leute Arbeit finden können. Der Waffenstillstand bedeutet ja nicht, dass die Menschen in die Fabriken zurückkehren konnten, denn die sind zum Großteil zerstört. Unzählige Familien haben keine Arbeit, und wenn sie Arbeit haben, dann werden sie so schlecht bezahlt, dass sie davon vielleicht die ersten zehn Tage eines Monats leben können.

Die Furche: Wie kann man in so einer Lage überleben?

Sr. Anni: Die Menschen sind großartig, sie bestehen darauf, ihr Leben weiterzuleben, auch wenn das sehr schwierig ist. Das ist ein Zeichen großer Kraft, die tief in ihnen steckt. Sie versuchen, mit dem wenigen, das sie haben, zu überleben. Gott sei Dank gibt es Hilfe von außen, um das Leid zu lindern. Ich bewundere die Menschen in der Stadt für die Weise, wie sie versuchen, sich allen Herausforderungen zu stellen: Das eine Mal fallen wir, das andere Mal stehen wir wieder auf. Für alle von uns ist das Leben nicht einfach. Oft sind wir in Tränen ausgebrochen, oft haben wir die Hoffnung verloren oder den Trost.

Die Furche: Seit wann leben Sie in Aleppo?

Sr. Anni: Unsere Gemeinschaft der "Sisters of Jesus and Mary" wirkt seit 2003 in Aleppo. Wir sind im Krieg dageblieben, haben mit den Menschen mitgelitten. Wir hatten kein Licht, wie die meisten in der Stadt. Wenn wir in unserer Gemeinschaft gebetet haben, mussten wir Kerzen anzünden. Mittlerweile gibt es Dieselgeneratoren, von denen man Strom beziehen kann. Aber viele können sich das nicht leisten. Deswegen danke ich für die Unterstützung, dank "Kirche in Not" konnten wir etwa 1000 Menschen wieder elektrisches Licht zur Verfügung stellen.

Die Furche: Und wie sieht das mit Wasser aus?

Sr. Anni: Das ist ein großes Problem. Oft mussten wir lange Zeiten ohne Wasser auskommen. Die Regierung hat in verschiedenen Stadtteilen Brunnen gegraben, zu denen die Menschen kommen können. Sie können sich vorstellen, wie demütigend es für alte Menschen ist oder für Kinder, Tag für Tag - oder ich weiß nicht wie oft am Tag - zu kommen, um Wasser mitzunehmen. Einige haben Fahrzeuge mit einem Tank für 500 oder tausend Liter. Das ist eine kleine Erleichterung - aber nicht mehr: Tausend Liter sind in zwei, drei Tagen weg, vor allem, wenn man Kinder hat. Und auch dafür muss man bezahlen. Das alles ist eine schwere Last für das Leben der Menschen.

Die Furche: Und die Lebensmitteloder die Gesundheitsversorgung?

Sr. Anni: Wegen des Krieges sind die Waren sehr, sehr teuer geworden. Die Menschen können sich das Essen nicht mehr leisten. Hier versuchen die Kirchen, die Menschen zu unterstützen. Die meisten Familien in Aleppo erhalten Lebensmittelpakete - auch das reicht nicht aus, aber hilft doch ein wenig. In Bezug auf die Gesundheitsversorgung haben einige Kirchengemeinden kleine Krankenstationen errichtet, um die Basisversorgung an Medikamenten zu ermöglichen - etwa für alte Menschen. Wenn eine größere Operation nötig ist, arbeiten wir zusammen - sodass der Preis dafür nicht so hoch ist.

Die Furche: Die Christen in Aleppo sind eine Minderheit. Wie sind die Möglichkeiten für Christen?

Sr. Anni: Vor dem Krieg haben wir darüber nie nachgedacht. Christen und Muslime lebten Seite an Seite, als Brüder und Schwestern. Wir hören jetzt oft - wir sind Muslime, wir sind Sunniten: zuvor war das in Syrien nie ein Thema. Aber auch jetzt können die Christen frei beten und ihren Glauben leben. Im Mai haben wir eine Fatima-Madonna bekommen und bei den meisten Kirchen gab es eine große Prozession: Die Muslime respektieren unseren Glauben. In einigen Stadtteilen haben sich die Verhältnisse allerdings geändert: Wo die Rebellen sind, ist es nicht egal, ein Muslim oder ein Christ zu sein. Aber wo wir leben, merken wir nichts davon.

Die Furche: Richtet sich Ihre Hilfe nur an die christlichen Gemeinschaften oder auch an Muslime?

Sr. Anni: In einigen Kirchen werden alte Menschen betreut -ohne Ansehen, ob sie Christen oder Muslime sind. Andere unterstützen verschiedene Familien. Bei der Hilfe unterscheiden wir nicht zwischen Christen und Muslimen. Alle sind Kinder Gottes - und das genügt uns. Unsere Gemeinschaft hilft Christen, aber wenn ein Muslim an unsere Tür klopft, dann sagen wir nicht Nein. Niemals.

Die Furche: Warum kam Ihre Ordensgemeinschaft 2003 hierher?

Sr. Anni: Der Bischof von Aleppo hat unsere Generaloberin gebeten, uns nach Aleppo zu schicken, um in den Schulen und in den Pfarren zu arbeiten. Als der Krieg begann, änderten sich die Notwendigkeiten. Wir sagten: Wir müssen auf den Notschrei der Menschen hören. Bildung ist sehr wichtig, aber wir sahen, dass es dringlichere Aufgaben gab. Daher haben wir die Schulen geschlossen, auch weil viel weniger Schüler da waren. Und wir wollten mit den Menschen sein.

Die Furche: Wie wichtig ist der Glaube für Ihr Engagement?

Sr. Anni: Zu Beginn des Krieges glaubte ich, in einem bösen Traum zu sein, aus dem ich bald erwachen würde. Niemand von uns konnte sich vorstellen, was wir durchmachen sollten. Wir haben eine Menge durchgemacht - aber überall sehen wir die Hand Gottes.

Die Furche: Aber wie gehen Sie damit um, dass Sie etwas mühsam aufbauen, das dann vom Krieg wieder zerstört wird? Streiten Sie da nicht mit dem Herrn darüber?

Sr. Anni: Ich frage wieder und wieder: Warum, Herr, warum nur? Wir haben im Krieg einen Freund, einen Priester verloren, mit dem wir viel zusammengearbeitet haben. Das war ein besonders schmerzerfüllter Moment für mich. Da habe ich mit Gott gehadert. Viele Menschen in Aleppo fragen: Wo ist Gott? Wir mussten akzeptieren, dass es in der Welt, in der wir leben, Momente der Trauer gibt und Augenblicke der Freude. Und Augenblicke der Schwierigkeiten, und dass wir dies im Glauben annehmen müssen. Das ist nicht leicht. Ich habe viele Nächte geweint, ich konnte oft nicht schlafen, versteckte mich während der Bombardements und habe gebetet. Es ist nicht einfach, da den Glauben zu bewahren, aber er wächst in kleinen Schritten, auch im Leiden.

Die Furche: Was können die Menschen in Österreich für Aleppo tun?

Sr. Anni: Das Erste ist das Gebet. Denn wir wissen, dass das Gebet unser Leben ändern kann. Ich möchte mich aber auch bei all jenen bedanken, die uns unterstützen. Denn so wissen wir, dass wir nicht allein sind.

Informationen: www.kircheinnot.at

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