In den Wahnsinn gestochen

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Der polarisierende Opernregisseur Peter Konwitschny hat am Grazer Schauspielhaus Shakespeares "König Lear" inszeniert. Er zeigt uns das Stück als große Weltentblößung und macht uns zu Voyeuren einer entleerten Moderne.

In Shakespeares Stücken gibt es immer wieder jene modernen Momente, in denen wir nicht mehr wissen, ob wir uns in einer Tragödie oder einer Komödie befinden. Szenen tauchen vor uns auf, in denen die Tragödie sich über die Komödie hebt und die Komödie aus dem Grauen herauslacht. "König Lear" ist die Tragödie eines Mannes, der sich nicht kennt. Und keiner an seinem Hof würde es wagen, dass Lear Lear begegnet. Er braucht andere Menschen nur zur Zerstreuung seiner eigenen Existenz. Achtzig Jahre ging das gut. Doch gleich wird diese Hülle zerplatzen und Lear wird nackt dastehen. Im Handumdrehen vernichtet er sein Reich, seine Familie, sein Leben. Aber jetzt ist noch alles gut. Wir sind ganz am Anfang hier in Graz. Und Peter Konwitschnys König Lear kichert. Er kichert viel und trägt dabei einen Hermelinumhang, rote Schuhe und eine Trompete, die er immer wieder grauenhaft anstößt.

Dieser großartige Lear, von Stargast Udo Samel gespielt, ist ein bedauernswerter Kauz, den possenhaftes Selbstmitleid auszeichnet. Er verlangt nach uns. So nehmen während der ersten zwei Akte rund 150 Besucher auf der Hauptbühne Platz. Eine rote Rampe führt quer durchs Zuschauerparkett über eine Eisenleiter direkt in den ersten Rang (Bühne: Jörg Koßdorff). Wenn Lear das Reich jetzt an seine Töchter für geheuchelte Liebe verhökert, dann gibt es Hetztheater. Für Stimmung ist gesorgt: Der König inszeniert seinen Abgang und stürzt als Puppe in die Tiefe, um nach einigen Schrecksekunden, von einer elektrischen Hebebühne emporgehoben, seine nietzscheanische Reichsverteilungsnummer anzustimmen: Der König ist tot! Es lebe der König! Wie ein Kartenspieler, der hitzköpfig das Blatt ausgibt, reißt er die Karte in Stücke und wirft sie seinen Töchtern hin.

Der Verstand bleibt dem Narren

Keiner am Hof konnte wissen, was der Moment der Abdankung bewirken würde, auch seine Töchter ahnten es nicht. Die bittere Frederike von Stechow als Goneril und eine gierige Jaschka Lämmer als Regan verwandeln sich in Furien, die Jüngste, Cordelia (Sophie Hottinger), in ein Opfer der Macht. Das ganze opulente elisabethanische Hofgebilde (Kostüme: Michaela Mayer-Michnay) wird nun im Ringen um die Herrschaft zerfetzt. Die Fetzen, die Konwitschny reißt, saugen die Tragödie auf. Auch der männliche Hauptschurke hat ein neues Gesicht bekommen. Jan Thümer spielt Edmund Gloster nicht als dämonisches Untier, sondern als Paradeschurken: flink, blond, frisch, als müsse er nicht eine archaische Mordmaschine in Gang setzen, sondern eine Talkshow schwungvoll moderieren. Und Lear begegnet Lear, der keine Vorsicht, keine Intimität kennt, der ohne Scham ist. Udo Samel sticht in den Wahnsinn wie andere in See. Die Krone wird gegen eine Papierschiffchenmütze getauscht und der Verstand dem Narren (Otto David) überlassen.

Dass Peter Konwitschny seinen Lear am Ende, aus allen Bezügen demontiert, überleben lässt, ist beängstigend konsequent. So wird nach der Pause nur mehr die Bühne bespielt, die zu einem grauen, keilförmigen Guckkasten verengt wurde. Zwei Ausgänge sind noch vorhanden, aber jede Frage nach dem Wohin erübrigt sich. Die königlichen Akteure tragen zeitgemäße schwarze Anzüge. Völlig neutralisiert erscheinen sie. Völlig erkaltet gehen sie aufeinander los.

Zyklopischer Theaterwurf

Lear wird ein Pappschild umgehängt, auf dem zu lesen ist: "I am Lear." Er könnte es also sein. Deutlich können wir nur mehr Lears geblendeten Gefolgsmann Gloster (Götz Argus) erkennen. Seine blutigen Augenhöhlen glotzen uns an, bis auch die grauen Bühnenwände, nach oben gezogen, jene Tribüne freigeben, auf der zwei Stunden zuvor noch Zuschauer saßen. Jetzt lungert die Sweatergeneration ihre letzten Augenblicke ab. Ganz oben hockt Gloster. Er kann offenbar wieder sehen. Nur mehr wenige hängen hier herum, die von sich sagen können, dass sie dieses Spiel auch kennen. Bald werden auch sie tot sein. Erstickt, erschossen, von selbst gerichtet. Das wackelige Gebäude ihrer Wünsche ist eingebrochen. Sogar der Schmerz. Lear hat das letzte Wort: Los! Sehen sie doch hin! Die Welt steht leer nach diesem zyklopischen, großartigen Theaterwurf. Dass er bisweilen ein wenig lehrhaft ist: wir drücken ein Auge zu.

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