In der Enge eines Irrenhauses

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Ein erstaunlicher Presse-Text: Auf die Frage, wie er es denn geschafft hat, dieses gewaltige Text-Tableau auf ein abendfüllendes Maß zu bringen, antwortet darin Thomas Schulte-Michels, der Regisseur: "Indem ich meinen Beruf ausübe.“ Als altgedienter Theaterfuchs weiß er, dass jede Geschichte sich in der Länge eines Hollywoodfilms erzählen lässt.

Die Gesetze der Unterhaltungsindustrie und des Journalismus kannte auch Karl Kraus. Weil er sie so gut kannte, versuchte er ihnen "Die letzten Tage der Menschheit“ zu entziehen. Einem "Marstheater“ ist dieses gewaltige Doku-Drama über den Ersten Weltkrieg zugedacht. Die "grellsten Erfindungen“, so schreibt der Autor, "sind Zitate“, die Phrase selbst wird hier zum Geschoss.

220 Szenen auf mehr als 600 engbedruckten Seiten umfasst der Originaltext. Auf eine Länge von zehn Theaterabenden hat Kraus die Aufführungsdauer geschätzt. Das ergibt eine einfache Rechnung. An einem Abend kann man bestenfalls ein Zehntel des Textes spielen. An dem, was an dem Stück als unnötiger Ballast erscheint, weil es nicht in die Konventionen des Theaters passt, setzt die Inszenierung von Schulte-Michels an. Der treibende Gedanke ist der Rotstift, der weniger als 50 Szenen übriglässt und auch diese teilweise so weit kürzt, dass man im Ergebnis meint, es mit einer Szenenfolge von Mikrodramen zu tun zu haben.

Alles ist simpel: Die programmatische Offenheit des Marstheaters wird in die forcierte Enge eines Irrenhauses gesperrt. Elf Männer in weißer Anstaltskleidung treten in der Eingangsszene vor den Vorhang und präsentieren stumm ihre Marotten. Besonders irr ist der Blick, den bei dieser Gelegenheit der großartige Haymon Maria Buttinger (in späteren Szenen als Feldwebel und Zivilist zu sehen) ins Publikum wirft.

Angeleitet wird die Truppe vom zwölften Mann. Marcello de Nardo gibt, wie alle anderen in langen weißen Unterhosen und billig auf irr geschminkt, eine Art Moderator. In der Szenenfolge, die die Wahnsinnigen jetzt gleich aufführen werden, nimmt er eine der wenigen weiblichen Rollen ein, die Kraus vorgesehen hat. Die Schalek ist eine Kriegsreporterin, die der kämpfenden Truppe die Frage ganzer Generationen von Sportreportern stellt: Wie fühlen Sie sich, wenn sie schießen? Nur schießt sich der Gefragte hier gleich selbst in den Mund.

Grell und pointiert

Phrasen und Zeitungsberichte überzeichnen bei Karl Kraus die Realität und schaffen damit erst eigentlich die Wirklichkeit des Krieges. Schulte-Michels verlässt sich auf die hetzerischsten und lautesten Töne. Das Gesäusel der Humanität und die langsamen und komplexen Passagen, die es in den "Letzten Tagen der Menschheit“ auch gibt (bei Optimist und Nörgler etwa), sind allesamt aus dem Stück geflogen.

Alles, was die Truppe der Irren in gnadenloser Schmiere auf die Bühne bringt, ist grell und pointiert. Kaum zu glauben, dass es in diesem Stück so viele Lieder gibt. Dauernd wird etwas im Chor gesungen. Spätestens nach einer Stunde hätte ich mir einen kleinen Tempowechsel gewünscht. Was noch ein Glück ist: Dass es der Regie offensichtlich gelungen ist, das grandios geschlossene Ensemble von der Inszenierungsidee zu überzeugen. Voll Spielfreude (und beinahe hätte ich jetzt geschrieben: völlig zwanglos) agieren die zwölf Männer in den stilisierten Zwangsjacken, in die man sie gesteckt hat.

Es ist ungerechnet, von den Schauspielern jemanden hervorzuheben. Erwin Ebenbauer aber, der unter anderem einen großartig steirischen Ottokar Kernstock gibt, und Günter Franzmeier als rohrstockschwingender Lehrer seien dennoch genannt.

Die Inszenierung ist ein Best of Karl Kraus. Nach dieser Logik muss es auch unter den ausgewählten Szenen bessere und schlechtere geben. Zu den Höhepunkten gehört ein zufälliges Zusammentreffen zweier pensionierter Hofräte in der Wiener Florianigasse. Beide haben sich als Hobbydichter an einem der berühmtesten Texte von Johann Wolfgang von Goethe versucht. Hofrat Tibetanzl ("Über allen Kipfeln ist Ruh …“) macht aus ihm eine humorvolle Ballade über die Bäcker und den Brotmangel. Hofrat Dlauhobetzky von Dlauhobetz einen patriotischen Gesang. Als "Wanderers Schlachtlied“ wird das Elaborat in der Zeitung abgedruckt.

Die letzten Tage der Menschheit

Volkstheater - 24., 25. Mai, 3., 7., 8., 12. Juni

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