In der Windrose des Geschehens

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Die Bachmann-Preisträgerin des Vorjahres, Katja Petrowskaja, ist von ihrem Text "Vielleicht Esther" nicht zu trennen.

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Die Bachmann-Preisträgerin des Vorjahres, Katja Petrowskaja, ist von ihrem Text "Vielleicht Esther" nicht zu trennen.

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Sie will nicht so recht ins Bild passen. Der Erfolg scheint ihr suspekt, fast erschrocken sieht sie aus, als sie am 7. Juli 2013 als Gewinnerin des Bachmann-Preises feststeht. Ein Fremdkörper im oft eitlen Literaturbetrieb. Understatement ist ihre Art, dabei wirkt sie manchmal richtig aufsässig. Journalistenfragen klopft Katja Petrowskaja gerne auf ihren Sinn ab und überhaupt, als Schriftstellerin sieht sie sich gar nicht. "Ich hab' keine Ahnung, wie man schreibt, aber einfach ist es nicht", antwortet sie Felicitas von Lovenberg etwa in der Sendung "lesenswert". Das klingt kokettierend, sie meint es aber durchaus ernst.

Dass gerade sie das Schaulaufen der Selbstinszenierung in Klagenfurt für sich entscheiden konnte, ist daher nicht ohne Ironie. Katja Petrowskaja wurde sowohl von der Jury als auch vom Publikum gefeiert, wie selten eine Autorin zuvor, das Wort "verdient" kann als Zusammenfassung des Medienechos dienen. In der Berichterstattung gingen die Texte der geladenen Autoren und Autorinnen etwas unter, bestimmte doch das Damoklesschwert eines möglichen Endes der Tage der deutschsprachigen Literatur die Szenerie. Der vom ORF inszenierte Spuk war jedoch schnell vorbei, auch dieses Jahr wird von 3. bis 6. Juli wieder um den Bachmann-Preis konkurriert. Es bleibt ein schaler Nachgeschmack und die Erinnerung an die umjubelte Gewinnerin, die der russlandstämmigen Olga Martynova nachfolgte.

Abbild des 20. Jahrhunderts

Die in Kiew geborene, seit 1999 in Berlin lebende Autorin las den Text "Vielleicht Esther" aus ihrem gleichnamigen, in diesem Frühjahr bei Suhrkamp erschienenen Buch. Petrowskaja ist ein Beispiel dafür, wie Literatur von der Persönlichkeit des Autors leben kann. Ihre Lesung beim Bachmann-Preis hat dem Text eine Bedeutungsebene verliehen, die beim Selberlesen etwas verloren geht. Es hätte kaum eine bessere Bestätigung für das Format der Veranstaltung geben können, als ihr ausdrucksstarker Auftritt und die feinen Nuancen, die sie dem Text verleiht. Die Arme mal schützend vor sich verschränkt, dann wieder fast heiter lebt Petrowskaja die Geschichte über die Flucht ihres Vaters 1941 aus Kiew und die Erschießung ihrer Urgroßmutter vor, anstatt sie lediglich vorzulesen. Das hat freilich auch mit dem autobiografischen Hintergrund des Textes zu tun.

Beim Zuhören merkt man zudem, was bei der Lektüre nur sanft mitschwingt, bei ungewöhnlichen Formulierungen etwa, die unwillkürlich die Frage aufwerfen, ob hier Wendungen aus dem Russischen durchklingen. Ein Vorurteil vielleicht, eine Bereicherung der deutschen Sprache auf jeden Fall. Durch ihren Akzent und die Art, wie Petrowskaja liest, bedächtig und behutsam abwägend, wird spürbar, wie sehr sie mit der spät erlernten Sprache ringt, die Instrument und Arbeitsmaterial zugleich ist. Vorsichtig geht sie mit diesen fremden Bausteinen um, das schafft manchmal wundervoll ungewöhnliche und poetische Gebilde, manchmal trägt die Architektur aber nur bedingt und das Gebäude wird etwas schief.

"Vielleicht Esther" zeichnet die Genealogie der eigenen Familie als Abbild des zwanzigsten Jahrhunderts: Die Beschäftigung der Nachfahren mit den Traumata vorangegangener Generationen ist in den letzten Jahren zum vielverwendeten Sujet der deutschsprachigen Literatur avanciert. Krieg, Vertreibung, Deportation sind Erfahrungen, die diese Generation junger Schriftsteller und Schriftstellerinnen nicht mehr selbst macht, mit denen sie aber dennoch umgehen muss. Akribische Recherche, Reisen an die Orte, die die eigene Existenz geprägt haben, bevor sie überhaupt das Licht der Welt erblickt haben, die sprachliche Auseinandersetzung mit dem, was die Eltern, Groß- und Urgroßeltern nicht zu artikulieren in der Lage waren.

Ulrike Draesner hat das kürzlich in ihrem Roman "Sieben Sprünge vom Rand der Welt" in stark fiktionalisierter Form eindrucksvoll vorgeführt, Katja Petrowskaja bleibt dem autobiografischen Kontext verhaftet und flüchtet sich höchstens von Zeit zu Zeit ins konjunktivische "Vielleicht". Sie könne gar keine Fiktion schreiben, sagt die Literaturwissenschaftlerin und Journalistin. Man möchte ihr widersprechen. Ihr Anspruch ist aber tatsächlich ein anderer. "Ich hatte gedacht, man braucht nur von diesen paar Menschen erzählen, die zufälligerweise meine Verwandten waren, und schon hat man das ganze zwanzigste Jahrhundert in der Tasche." Auch das wieder eine Aussage, die sie eigentlich nur tätigt, um sich sogleich selbst schreibend im Wechselspiel von Versuch und Scheitern zu widerlegen.

Dass die Qualität des Buches, das dezidiert nicht als Roman ausgewiesen wird, sondern die Genrebezeichnung "Geschichten" trägt, an der beim Bachmann-Preis vorgetragenen Textstelle gemessen werden würde, war zu erwarten. Umso erstaunlicher, dass Petrowskaja dieser hohen Erwartungshaltung gerecht werden konnte: "Vielleicht Esther" ist sowohl vom Publikum als auch von der Literaturkritik gleichermaßen positiv aufgenommen worden. Die Geschichte über die Urgroßmutter, die vielleicht Esther hieß, und in Kiew auf offener Straße von deutschen Soldaten erschossen wurde, jene über den Großonkel, Judas Stern, nach einem politischen Schauprozess hingerichtet, weil er in Moskau 1932 auf den deutschen Botschaftsrat geschossen hatte, die eindringliche und zugleich lakonische Schilderung ihrer Fahrt nach Mauthausen, das sind die stärksten Stellen im Buch. "Ich rufe nicht jeden Tag in einem KZ an. Ehrlich gesagt ist es mein erstes Mal. Die Arbeitszeiten stehen im Internet." Trotz des belasteten Themas ist "Vielleicht Esther" zwar ein berührendes, aber kein schweres Buch - wenn die Autorin über die Massaker in der Kiewer Schlucht von Babij Jar schreibt, bei der 1941 innerhalb von zwei Tagen 33.000 Juden erschossen wurden, wirkt das Grauen von selbst und braucht keine ästhetische Verstärkung.

Frage von Faktizität und Fiktion

Wie schon die Juroren in Klagenfurt arbeitet sich nun nach Erscheinen des Buches auch das Feuilleton an der heiklen Frage von Faktizität und Fiktion ab. Paul Jandl stieß sich damals daran, dass die Autorin das Schicksal ihrer Urgroßmutter erfunden habe - dieser moralisierende Zugang wird dem Text nicht gerecht. Denn genau darum geht es: den Versuch, Sinn herzustellen aus dem diffusen Gemisch von historischen Fakten, unzuverlässiger Erinnerung, Familiendokumenten, schwindender Augenzeugenschaft. "Und ich sage doch, ich habe nun einmal diese Neigung, alles in ein großes Panorama zu stellen, als befänden wir uns selbst in der Windrose des Geschehens, wenn auch nur dank eines verrückten Verwandten, von dem wir nichts lernen können." Sich selber in Raum und Zeit zu verorten, einen Bezug zur Geschichte zu schaffen, ist das sehr persönliche Unterfangen, an dem uns Petrowskaja teilhaben lässt. Manchmal muss man sich da in die Fiktion retten, manchmal müssen Leerstellen akzeptiert werden. In der Narration, dem Erzählen, liegt die Gemeinsamkeit von Historiografie und Literatur.

Ein kleines, leises Buch wollte sie schreiben, mehr für sich als für andere - der Gewinn des Bachmann-Preises hat ihr da einen Strich durch die Rechnung gemacht. Das Feuilleton sieht Katja Petrowskaja als personifizierten Beweis für die Öffnung der deutschsprachigen Literatur, die sowohl sprachlich als auch perspektivisch aus dem Osten neue Impulse bekommt. "Ich hab' keine Ahnung, wie man schreibt, aber einfach ist es nicht." Mit Letzterem hat sie recht, Ersteres indes eindrucksvoll widerlegt.

Vielleicht Esther

Von Katja Petrowskaja,

Suhrkamp 2014.

285 Seiten, gebunden, € 20,60

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