In die Steppe

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Ein Roman vom Glanz und Elend junger roter Idealisten

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Ein Roman vom Glanz und Elend junger roter Idealisten

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In Magnitogorsk, in der Steppe des südlichen Ural, dem "sibirischen Vorposten der Zivilisation", sollte ein riesiges Hüttenkombinat entstehen. Den Bau von Wohnungen für 200.000 Menschen hatte die 16. Parteikonferenz in Moskau 1929 beschlossen und Stalin holte sich junge "Bauhaus"-Architekten aus Deutschland und Holland, um das Projekt zu realisieren. Gabriele Krone-Schmalz, langjährige ARD-Korrespondentin in Moskau, beleuchtet in ihrem neuen Roman Bautrupp-Alltag am Beispiel zweier junger Frauen, die voll Begeisterung und mit der Hoffnung auf Verwirklichung ihres "neuen Frauenbildes" in die Steppe gehen.

Mit einem gigantischen Industrieprojekt wollte Stalin beweisen, zu welchen großartigen Leistungen die Sowjetunion fähig war. Amerikaner planten die Hochöfen für den Eisenabbau am "Magnetberg", Deutsche sollten den Wohnraum im Stil der "Neuen Sachlichkeit" bauen, sowjetische "Freiwillige" sollten in fünf Jahren alles fertigstellen. Die ausländischen Berater bekamen hundert Dollar pro Tag und freie Unterkunft, die Freiwilligen miserable Löhne und Verstärkung durch Zwangsverpflichtete. Ausländische Arbeiter ohne Experten-Status hatten immerhin Baracken, genügend Lebensmittel und ärztliche Versorgung. Die Zwangsarbeiter hausten unter ärmlichsten Verhältnissen und starben im extremen Klima in Massen. Mangelnde technische Ausbildung forderte viele Opfer. Schlechte Versorgung mit Baumaterial und extrem lange, kalte Winter brachten unvorhergesehene Verzögerungen.

Die beiden Heldinnen des Romans, Anna und Heike, finden 1931 die Aufbruchstimmung toll und hadern nicht mit dem kargen und anstrengenden Leben. Das Gefühl, an einer großen Sache mitzuarbeiten und die internationale Gruppe von Gleichgesinnten lassen sie über viele Ungereimtheiten erst 1934 nach ihrer Rückkehr nachdenken. Während Bleistifte und Zeichenpapier mit bürokratischer Akribie verwaltet wurden, lagen in "Baracke Null" Tonnen nicht funktionsfähiger Baugeräte, vergammelten Baumaterials und irrtümlich angeforderter Einzelteile. Die Pläne des deutschen Architekten Ernst May, der kleine Wohneinheiten für Paare und großzügige Gemeinschaftsräume geplant hatte, wurden von der Wohnungsnot der Russen ad absurdum geführt. Familienklans bezogen in halbfertige winzige Räume, die Gemeinschaftsbäder blieben ungenutzt oder wurden zu Wohnräumen umfunktioniert, ebenso wie die "Roten Ecken", die "Herrgottswinkel der Kommunisten".

In der kargen Freizeit erleben die beiden jungen Frauen ihre ersten Liebesabenteuer und diskutieren ihre Vorstellungen von der Befreiung der Frauen und vom autonomen Leben an der Seite des Mannes. Viele Ideen der späteren Feministinnen wie freie Liebe, gleichberechtigte außerhäusliche Erwerbsarbeit und so fort wurden damals von linken Frauen erprobt - mit ähnlichen Hürden wie 70 Jahre später.

In Magnitogorsk entstand das größte Eisenhüttenwerk der Welt. Viele Jahre war es für Ausländer gesperrt, Ende der achtziger Jahre unter Gorbatschow wurde die Stadt auch für ausländische Investoren geöffnet. Mittlerweile sind amerikanische und deutsche Firmen am Eisenabbau und der Rohstahlproduktion in Magnitogorsk beteiligt.

Gabriele Krone-Schmalz hat bereits einige Romane über den Frauenalltag in der Sowjetunion geschrieben. Die frühen dreißiger Jahre hält sie für eine wenig beleuchtete Zeit in der Geschichte der Sowjetunion. Die Form ihres halbdokumentarischen Romans erscheint dafür aber nicht ganz geeignet, denn immer wieder bremsen die gut recherchierten und interessanten Fakten die Dynamik des Erzählens.

Insgesamt erhellt der auf den authentischen Jugenderinnerungen zweier noch lebender alter Damen basierende Roman nicht nur eine dramatische Zeitspanne der Sowjetunion. Er ist auch ein Dokument einer immer wiederkehrenden Sehnsucht nach Engagement und politischer Solidarität. Und er berichtet von den Anstrengungen, die junge Menschen für große Ziele unternehmen, ohne zu bemerken, welche zerstörerischen Kräfte schon längst im Hintergrund die politischen Fäden ziehen.

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