In günstiger Position

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Österreich profitiert vom Wegfall der Handelsbarrieren mehr als andere EU-Staaten. Jedoch die Vorteile werden nicht gleichermaßen verteilt sein.

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Österreich profitiert vom Wegfall der Handelsbarrieren mehr als andere EU-Staaten. Jedoch die Vorteile werden nicht gleichermaßen verteilt sein.

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Die Europäische Union steuert mit der Osterweiterung nicht nur auf eine zu Zeiten ihrer Gründung unvorstellbare Größenordnung zu, sie hat sich gegenüber der ursprünglichen Konzeption auch inhaltlich stark gewandelt. Es scheint in der Tat so, als hätte Europa an der Jahrtausendwende in Gestalt der EU endlich zu einem Erfolgsmodell der friedlichen Vereinigung gefunden.

Indessen gibt es auch Anlaß zu Skepsis. Während den Beitrittskandidaten die Erweiterung nicht schnell genug kommen konnte, wurde in den alten Mitgliedsländern sehr schnell Sorge um eine voreilig vollzogene Erweiterung geäußert. Die neuen Mitgliedsländer sind aufgrund ihres Einkommensniveaus und ihrer wirtschaftlichen Struktur nach geltenden Grundsätzen der EU-Politik in erheblichem Maße Nettoempfänger von EU-Mitteln. Anders gesagt, eine erweiterte EU ist für die bestehenden Mitgliedsländer automatisch auch eine teurere Union. Die Begeisterung darüber hält sich - man wird sagen verständlicherweise - in Grenzen.

Aber auch in den Beitrittsländern ist die anfängliche Euphorie einer gewissen Ernüchterung gewichen. Ernüchterung vor allem über die Konsequenzen der im Zuge des Beitritts geforderten Übernahme der gesamten EU-Regelungen. Indes bedeutet die Übernahme des institutionellen Bestandes der Union für diese Länder, so schmerzlich sie in einzelnen Bereichen sein mag, nicht zuletzt eine einmalige Chance der Verankerung und Beschleunigung des Transformationsprozesses. In Verbindung mit den erwarteten Nettomittelzuflüssen präsentiert sich die EU-Mitgliedschaft insgesamt nach wie vor als attraktives Ziel.

Moralisch geboten?

Worin aber besteht die Attraktivität der Osterweiterung für die bestehenden Mitgliedsländer? Ist sie unter dem Strich mehr als ein Gebot der politischen Räson, vielleicht gar nur eine kostspielige moralische Verpflichtung, resultierend aus den vor 50 Jahren erhaltenen Marshall-Plan-Mitteln, die den osteuropäischen Ländern versagt geblieben sind?

Etablierte Erkenntnisse der Volkswirtschaftstheorie geben zu mehr Optimismus Anlaß. Diese besagen nämlich, daß die erweiterte Union für die bestehenden Mitgliedsländer wertvoll sein wird, und zwar aufgrund positiver Wirkungen der wirtschaftlichen Integration auf den Güter-, wie auch den Faktormärkten. Diese Wirkungen sind nicht so unmittelbar einsichtig und allgemein bekannt, wie die Kosten der Erweiterung, aber sie sind um nichts weniger real, und mit einigem Aufwand sogar bezifferbar.

Jedes einzelne der momentan bestehenden 15 Mitgliedsländer wird nach der Erweiterung einen größeren und vielfältigeren Kreis von Partnerländern vorfinden, mit denen es nach den in der EU verankerten Grundsätzen des ungehinderten Güterhandels und möglichst freier Faktorwanderungen Wirtschaftsbeziehungen unterhalten kann. Oder soll man nicht doch treffender sagen: unterhalten muß? Aber die Vorteile werden nicht gleichermaßen verteilt sein. Von besonderer Brisanz ist, zumindest in öffentlichen Diskussionen, die erleichterte Möglichkeit der Zuwanderung von Arbeitskräften aus den neuen Mitgliedsländern. Solange erhebliche reale Einkommensunterschiede zwischen neuen und alten Mitgliedern bestehen, ist ein Anreiz für derartige Zuwanderung gegeben. Und sie stellt für einzelne heimische Arbeitnehmer auf ganz ähnliche Weise unangenehme Konkurrenz dar, wie die nach Beseitigung der Importbarrieren leichter verfügbaren Güterimporte für manche Firmen.

Vorab ist also zu konstatieren: Wie nahezu jede wirtschaftliche Veränderung, so wird auch die Osterweiterung der EU manchen Leuten nützen, und anderen schaden. Je nach Anlaß und Perspektive, dominiert in den öffentlichen Diskussionen mal die eine, mal die andere Seite. Muß man es mit diesem "offenen Verdikt" auf sich beruhen lassen? Immerhin scheint die Möglichkeit gegeben, daß ein Mitgliedsland insgesamt - trotz der damit verbundenen Erhöhung der Nettobeitragslast - aufgrund der Integrationsvorteile aus der Osterweiterung insgesamt einen ökonomischen Vorteil zieht. Die Volkswirtschaftstheorie bietet Instrumentarien, die eine Prüfung dieser Möglichkeit erlauben. An der Universität Linz ist eine solche Prüfung für den Fall Österreichs erfolgt. Im Folgenden seien Kernergebnisse dieser Untersuchung präsentiert: Die wirtschaftliche Öffnung gegenüber neuen Mitgliedsländern ist für Österreich aufgrund seiner Lage und Geschichte von wesentlich größerer Bedeutung als für die anderen EU-Länder. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt beträgt der Anteil der Warenexporte in die zehn osteuropäischen Beitrittsländer im Falle Österreichs nahezu vier Prozent, für die EU insgesamt hingegen wenig mehr als ein Prozent. Bei den Warenimporten sind die Anteile 2,7 versus 0,8 Prozent. Beide Male liegt Österreich mit Abstand an der Spitze. Die wechselseitige Beseitigung der Zölle und die Kostenersparnis durch den Wegfall der Grenzkontrollen und anderer Handelsbarrieren wirkt also bei Österreich auf einer breiteren Basis als bei den anderen EU-Ländern.

Ähnliches gilt nicht für die Belastung aus der Finanzierung der Erweiterung im Rahmen des EU-Budgets. Die Gesamtkosten der Erweiterung auf die ersten fünf Beitrittswerber bewegen sich zwischen 0,1 und 0,2 Prozent des Inlandsprodukts der EU15. Welcher Anteil davon auf ein einzelnes Land wie Österreich entfällt, hängt von der gewählten Finanzierungsstrategie ab. Grundsätzlich kann die EU entweder die Beiträge erhöhen, oder aber die Rückflüsse im Bereich der Agrar- und Strukturpolitik verringern. Eine Beitragserhöhung würde alle Länder in etwa gleich betreffen, wohingegen eine Kürzung der Rückflüsse die gegenwärtigen Nettoempfängerländer stärker treffen würde. Der Europäische Rat hat eine Präferenz dafür erkennen lassen, die Osterweiterung im Wege einer Kürzung der Strukturmittel zu finanzieren. Für Österreich ist das eine gute Nachricht. Nimmt man den dort verabschiedeten Finanzrahmen als Maßstab, so ergibt sich aus der ersten Erweiterungsrunde für Österreich eine relativ bescheidene Kostenbelastung im Ausmaß von etwa 0,05 Prozent des Inlandsprodukts.

Dem sind nun die Wirkungen der erwähnten Handelsliberalisierung gegenüberzustellen. Billigere Importe gereichen nicht nur den Konsumenten zum Vorteil, sie verringern über Zwischenprodukte auch die Produktionskosten heimischer Betriebe. Darüber hinaus stimulieren verbilligte Kapitalgüter auch Investition und Wachstum. Letzteres wird noch verstärkt durch eine zunehmende Exportnachfrage aus den neuen Mitgliedsländern, die bis zu einem gewissen Grad auch mit einer Erhöhung der im Export erzielbaren Preise verbunden ist. Modellberechnungen ergeben, daß diese Effekte der Osterweiterung die Kostenbelastung wettmachen, so daß für die österreichische Volkswirtschaft insgesamt ein Nettowohlstandsgewinn entsteht, und zwar im Ausmaß von 0,5 Prozent des Inlandsprodukts. Diese Zahl betrifft zunächst die erste Erweiterung um jene fünf Länder, mit denen schon seit 1998 verhandelt wird. Für die Aufnahme aller zehn Länder ergibt sich ein Gewinn im Ausmaß von etwas weniger als 0,6 Prozent.

Wer profitiert?

Hinter diesem Gesamtgewinn verbergen sich allerdings mitunter gravierende Verteilungseffekte. Zunächst vollzieht sich das Wachstum nicht in allen Sektoren gleichförmig. Überdurchschnittlich stark ist der langfristige Expansionseffekt in der Fahrzeugindustrie, der Textil- und Bekleidungsindustrie, und der Elektroindustrie, unterdurchschnittlich ist sie im Bergbau, der Lebensmittelindustrie und der Holzindustrie; die Land- und Forstwirtschaft verzeichnet einen geringfügigen Schrumpfungseffekt, gemessen am Kapitalstock im Ausmaß von etwa 1,5 Prozent. Kapitaleigner in stark expandierenden Sektoren werden am Beginn des Expansionsprozesses in den Genuß eines Vermögenszuwachses gelangen, das Gegenteil gilt für schrumpfende Sektoren. Darin besteht der erste Verteilungseffekt. Der zweite betrifft unterschiedliche Generationen. Es sind natürlich Generationen, die zum Zeitpunkt der Erweiterung in hohem Maße Finanzvermögen besitzen, die in den Genuß dieser Vermögenszuwächse kommen. Solche, die kurz nach der Erweiterung ins Erwerbsleben eintreten, partizipieren daran allenfalls im Wege der Vererbung. Erst künftige Generationen werden in den Genuß des Wachstumseffektes kommen, und zwar über höhere Löhne, in denen sich ein höherer Kapitalstock und eine höhere Arbeitsproduktivität widerspiegeln.

Zu wessen Lasten?

Vielfach wird die Befürchtung laut, daß die modernen Formen der Globalisierung zu Lasten der wenig qualifizierten Arbeitnehmer geht. Die Modellberechnungen bestätigen diese Angst im Falle der Osterweiterung nur sehr bedingt. Unter den expandierenden Sektoren befinden sich solche, die in hohem Maße wenig qualifizierte Arbeit einsetzen, etwa die Textil- und Bekleidungsindustrie, so daß der Wohlstandseffekt sich in Form einer für verschiedene Qualifikationsstufen in etwa gleich starken, langfristigen Lohnerhöhung im Ausmaß von etwas mehr als einem Prozent widerspiegelt.

Natürlich werden diese Effekte durch historische Entwicklungen überlagert, sodaß sie als solche nicht unbedingt direkt beobachtbar sind. Trotzdem sind sie Bestandteil der wirtschaftlichen Entwicklung Österreichs. Man wird einwenden, daß ein Wohlstandsgewinn im Ausmaß von einem halben Prozent des Inlandsproduktes angesichts der damit einher gehenden Verteilungseffekte keine beeindruckende Größenordnung darstellt. Zudem läßt sich, der Erfolg des Integrationsmodells der EU nicht allein an ökonomischen Kriterien messen. Letztendlich wird man aber zugestehen müssen, daß die EU auch mit dem Anspruch auf ökonomischen Erfolg angetreten ist. So gesehen ist die Erkenntnis, daß ihre Erweiterung in Richtung Osten den bestehenden Mitgliedsländern Vorteile bringt, von großer Bedeutung. Diese Vorteile werden sicherlich nicht in allen Fällen groß genug sein, um die höhere Nettobeitragslast wettzumachen. Österreich ist hier ohne Zweifel in einer besonders günstigen Position. Gleichwohl sollten die hier erwähnten Ergebnisse die Osterweiterung auch aus der Sicht anderer Länder etwas attraktiver erscheinen lassen, als dies in öffentlichen Diskussionen häufig unterstellt wird.

Der Autor ist Professor für Volkswirtschaft an der Johannes-Kepler-Universität Linz. Die Studie ist im Internet abrufbar: http://www.economics.uni-linz.ac.at/members/kohler/eustud.htm.

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