Informativ zu unbekannten Aspekten des Islam

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Christopher de Bellaigue versucht, die "islamische Aufklärung" zu retten.

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Christopher de Bellaigue versucht, die "islamische Aufklärung" zu retten.

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Wie manch andere Intellektuelle kämpft auch der englische Journalist Christopher de Bellaigue gegen das weit verbreitete Urteil, "der" Islam kenne keine Aufklärung. In seinem Buch "Die islamische Aufklärung" versucht der Autor, diese Sichtweise zu entkräften und stellt im Gegensatz dazu die These auf, ab der Eroberung Ägyptens durch Napoleon habe in drei durch den Islam geprägten Regionen, nämlich in Ägypten, dem Osmanischen Reich und in Persien, diese Aufklärung stattgefunden, inklusive "Gegenaufklärung". De Bellaigue möchte zeigen, dass "Nichtmuslime und selbst manche Muslime, die dem Islam eine Aufklärung aufdrängen wollen, offene Türen einrennen". Der Westen solle endlich einsehen, "dass der Islam in den letzten Jahrhunderten einen schmerzhaften, aber zugleich auch beglückenden Wandel erfahren hat -der zugleich eine Reformation, eine Aufklärung und eine industrielle Revolution war".

Drei Jahre schrieb de Bellaigue an diesem Buch, es umfasst in der deutschen Fassung etwa 500 Seiten und ist von Autoren wie Orhan Pamuk, Yuval Noah Harari oder Pankaj Mishra bereits als großartige Analyse gelobt worden. Diesen überschwänglichen Urteilen kann sich der Rezensent nur teilweise anschließen. Die Probleme beginnen bei der Verwendung zentraler Begriffe, so vor allem der "Aufklärung". Diese wird meistens mit Säkularisierung, der Moderne, mit dem Glauben an die Wissenschaft, mit politischen Reformen, mit liberalen, fortschrittlichen "westlichen" oder "modernen Werten" pauschal gleichgesetzt. Hier fehlen wichtige Differenzierungen, auch was Begriffe wie "Säkularisierung" oder "Moderne" betrifft. Das Ergebnis ist keine systematische Arbeit, sondern eher eine Sammlung von Episoden seit 1800, die "irgendwie" mit Reformen, Reformversuchen, Intellektuellen oder Politikern zu tun haben, die sich mit der europäischen Kultur und Politik ihrer Zeit auseinandergesetzt haben - oder auseinandersetzen mussten.

Unklare Begrifflichkeiten

Auch das Thema "Glaube und Vernunft", das immerhin im Untertitel angesprochen wird, ist wenig überzeugend abgehandelt. Wo de Bellaigue offenbar vor allem Konflikte sehen möchte, gibt es sogar seiner eigenen Darstellung nach vor allem Versöhnungs- und Homogenisierungstendenzen. Die Überlegenheit der eigenen islamischen Religion wird fast nie in Frage gestellt. Die Vernunft darf meist als Magd der Theologie fungieren. Fast alle muslimischen Autoren betonen, moderne Prinzipien wie Freiheit und Rechte seien "in embryonaler Form" bereits im frühen Islam vorhanden -so etwa Rifa'a at-Tahtawi oder Dschamal ad-Din al-Afghani.

Die Stärke der Arbeit liegt in der Fülle an Materialien, die sie bereitstellt. Sie behandelt spannende und oft unbekannte Episoden und Details aus der Geschichte des Nahen Ostens: beispielsweise die Reformen von Muhammad Ali Pascha, den häufigen Widerstand der Bevölkerungen gegen "Reformen von oben", feministische Strömungen, die veränderten Einstellungen gegenüber Homosexualität oder Sklaverei oder den Zeitungsboom in Persien um 1900. Die Arbeit endet mit dem iranischen Soziologen Ali Schariati (1933-77). Damit wird die Gegenwart nicht behandelt, in der meiner Meinung nach am ehesten von einer "islamischen Aufklärung" gesprochen werden kann.

Trotz der genannten Mängel kann das Buch als Einführung in die Ideen-und Kulturgeschichte islamisch geprägter Gesellschaften des Nahen Ostens seit 1800 empfohlen werden. Islamkritiker(innen) jeder Variante werden sich allerdings nach der Lektüre des Buches bestätigt fühlen: eine erzwungene Auseinandersetzung mit der europäischen Moderne impliziert nicht unbedingt den Prozess der Aufklärung.

Die islamische Aufklärung Der Konflikt zwischen Glaube und Vernunft 1798 bis heute. Von Christopher de Bellaigue S. Fischer 2018.544 Seiten, geb. e 25,-

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