Innenansichten aus der Weltmaschine

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Am CERN werden die weltweit größten Geräte genutzt, um die kleinsten Bestandteile der Materie zu erforschen. Die Flaggschiffe der Teilchenphysik haben aber auch eine ästhetische Faszination. Reflexionen zum Dialog von Wissenschaft und Kunst.

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Am CERN werden die weltweit größten Geräte genutzt, um die kleinsten Bestandteile der Materie zu erforschen. Die Flaggschiffe der Teilchenphysik haben aber auch eine ästhetische Faszination. Reflexionen zum Dialog von Wissenschaft und Kunst.

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Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen." Das schrieb Albert Einstein im Jahr 1952. Was meinte der geniale Physiker damit? Wissenschaft verlangt, dass wir immer wieder aufs Neue aufbrechen, unseren Wissenshorizont erweitern und unseren Platz im Kosmos jedes Mal neu bewerten. Der Künstler Paul Gauguin stellt mit seinem wohl berühmtesten Werk "Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?"(1897) genau dieselben Fragen. Und schon allein die Auseinandersetzung mit diesen Fragen verändert unsere Perspektive - geschweige denn die konkreten Versuche, Antworten darauf zu finden.

Große Kunst, Literatur und Musik stellen die gleichen Fragen wie die Wissenschaft. Kunst und Wissenschaft teilen das gemeinsame Interesse, der Wahrheit unseres Ursprungs näher zu kommen. Schon alleine dadurch ist ein interdisziplinärer Austausch nicht nur sinnvoll und spannend, sondern es ist auch wichtig, dass Künstler die Wissenschaft zu ihrem Thema machen. Die Ziele der wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeiten sind oft die gleichen, einzig der Ausdruck der Ergebnisse ist unterschiedlich. Während Wissenschaftler ihre Resultate rational, empirisch schlüssig präsentieren müssen, kann der Künstler auf eine größere Palette von Sinnen zurückgreifen, die weitere Dimensionen des Themas offenbaren. Die Faszination komplexer Themen wird dann einem größerem Publikum, das die Sprache der Mathematik und Naturwissenschaft nicht beherrscht, dennoch intuitiv begreifbar.

Immer näher an den Urknall

Eine in ihrer Dimension und Komplexität beispiellose wissenschaftliche Kooperation findet derzeit im Europäischen Forschungszentrum am CERN bei Genf statt. Der "Large Hadron Collider" (LHC), der weltgrößte Teilchenbeschleuniger, ist eine Maschine mit 27 Kilometern Umfang. Eine Maschine mit zwei Stahlrohren zu je 2800 Paketen, in denen jeweils hundert Milliarden Protonen enthalten sind. Eine Maschine, die diese Pakete gegengleich zirkulieren lässt und dann im Zentrum der Experimente 40 Millionen mal pro Sekunde fast mit Lichtgeschwindigkeit zur Kollision bringt. Die Experimente oder Detektoren sind Kameras mit der Dimension eines sechsstöckigen Wohnhauses. Sie sind darauf ausgelegt, Teilchenspuren mit der Präzision eines menschlichen Haares zu vermessen. Im Gegensatz zum Lichtmikroskop, das Lichtquanten zur Abbildung kleiner Objekte verwendet, werden hier durch Kollisionen die kleinsten Bausteine der Materie aus Energie erzeugt. Deren Verhalten wird mit den Teilchendetektoren beobachtet. Die Detektoren CMS und ATLAS sind zwei der großen Experimente am CERN, wahre Flaggschiffe moderner Wissenschaft. Das Studium des Mikrokosmos in all seinen Facetten ist das Ziel der beiden Experimente. Sie vereinen Technologien von noch nie dagewesener Komplexität, in wissenschaftlichen Instrumenten einer bisher unerreichten Dimension.

Der "Large Hadron Collider" gilt als eines der größten Wissenschaftsprojekte, das die Menschheit je realisiert hat. Schritt für Schritt hat die Teilchenphysik die Grenzen unseres Wissenshorizontes erweitert, hin zu immer kleineren Strukturen und immer näher an den Urknall heran, aus dem dieses Universum einst entstanden ist. Im Zuge dessen sind die Messanordnungen zur gigantischen Wissenschaftsarchitektur herangewachsen - mit dem Ziel, durch immer bessere Instrumente die Gesetzmäßigkeiten der Natur zu entschlüsseln. Diese Wissenschaftsinstallationen zählen heute zu den modernsten Anlagen der Welt.

Viele Vermessungsinstallationen besitzen durch ihre Dimension und dem aus ihrer Funktionalität entsprungenen Aufbau eine besondere Ästhetik. Das CMS-Experiment besticht nicht nur durch seine effiziente und direkte wissenschaftliche Vermessungsanordnung. Durch die Farbauswahl der unterschiedlichen Komponenten vermittelt das Experiment auch den Eindruck, als ob der französische Künstler und Op-Art-Mitbegründer Victor Vasarely bei seiner Konzeption beteiligt gewesen wäre. Der Wissenschaftsapparatus besteht aus Detektoren mit verschiedenen Aufgaben; die Anordnung der Instrumente entspricht einer Zylinderform, ineinander verschachtelt wie eine russische Puppe. Öffnet man diesen Zylinder, kommt der kreisförmige Querschnitt zum Vorschein: Viele Besucher, die das Glück hatten, den CMS-Detektor mit eigenen Augen zu sehen, vergleichen diesen Anblick mit dem Buntglasfenster aus der Notre-Dame-Kathedrale in Paris.

Hommage an die Forscher

Als Wissenschaftler, der beim Aufbau dieses modernen Turmbaus zu Babel mitmachen durfte und Tage wie Nächte damit verbringt, an diesem Instrument Tests und Installationen durchzuführen, bekommt man wahrlich seltene Perspektiven zu sehen. Verbirgt sich in dieser Person auch ein Künstler, der sich dieser Inspiration nicht entziehen kann, entstehen notgedrungen Eindrücke, die künstlerisch verarbeitet werden müssen.

Das Buch "CMS - The Art of Science" präsentiert Eindrücke und Perspektiven eines Künstlers, der als Wissenschaftler an diesem Wunderwerk moderner Ingenieurskunst beteiligt ist. Es ist nicht nur ein Fotobuch über eine beeindruckende Wissenschaftsarchitektur, sondern vor allem eine Hommage an die Forscher, die über 20 Jahre lang an Konzeption, Aufbau und Betrieb des Experimentes beteiligt sind. Die Auflistung der über 11.000 Namen und 800 Schwarz-Weiß-Porträts der kreativen Köpfe zeugen von der großen Vielfalt an Persönlichkeiten mit unterschiedlichster Herkunft und kulturellem Hintergrund.

Ein Teil des Buches ist meiner persönlichen künstlerischen Auseinandersetzung gewidmet: Der Wissenschaftsapparatus verschmilzt in Fotocollagen mit der Natur, die er ergründen will. In Essays von CERN-Wissenschaftlern werden die Themen "Art of Science","Art of Knowledge" und "art@CMS" verhandelt. "art@CMS" nennt sich ein Programm der CMS-Kollaboration mit dem Ziel, einen nachhaltigen Dialog zwischen Wissenschaft und Kunst zu generieren. Die Zukunft liegt in den Händen der Jugend, die sich den großen Fragen der Menschheit weiter widmen wird - inspiriert durch zeitgemäße innovative Anreize, die Neugier, Interesse und Engagement entstehen lassen.

Der Autor ist Teilchenphysiker am CERN, Fotograf, Künstler und Begründer von "art@CMs"

CMS - The Art of Science Von M. Hoch. Edition Lammerhuber

2016. 168 Seiten, geb., E 49,90

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