Seiler - © Foto: gemeinfrei

Insel der Traumtänzer

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Der Lyriker Lutz Seiler hat für sein Romandebüt "Kruso" den Deutschen Buchpreis 2014 erhalten. Selbst in der DDR aufgewachsen, schreibt er über den Sommer vor der Wende 1989. Schauplatz ist die Insel Hiddensee, mit ihrem Ausblick in die dänische Freiheit.

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Der Lyriker Lutz Seiler hat für sein Romandebüt "Kruso" den Deutschen Buchpreis 2014 erhalten. Selbst in der DDR aufgewachsen, schreibt er über den Sommer vor der Wende 1989. Schauplatz ist die Insel Hiddensee, mit ihrem Ausblick in die dänische Freiheit.

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Je mehr Zeit seit dem Berliner Mauerfall und seit der deutschen Wiedervereinigung vergeht, desto drängender das Bedürfnis von Schriftstellern, die Phase, die dieser radikalen Veränderung Europas voranging, minutiös festzuhalten. Uwe Tellkamp und Eugen Ruge haben - in jeweils mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Romanen - Porträts der DDR-Gesellschaft vor der Wende geliefert. Der bislang vor allem als Lyriker bekannt gewordene Lutz Seiler nimmt sich - ähnlich wie Ingo Schulze vor ein paar Jahren in "Adam und Evelyn" - eine sehr prägnante Spanne der Vorwendezeit vor, den Sommer 1989.

Illusion eines Zwischenreiches

"Kruso" spielt auf der Gerhart-Hauptmann-Insel Hiddensee, die schon zu DDR-Zeiten ein beliebtes, ein besonderes Ferienziel war. Denn von der schmalen Insel blickt man hinüber nach Dänemark, zur Insel Møn, die im real existierenden deutschen Sozialismus die Aussicht auf eine so nahe und doch so schwer erreichbare Freiheit gewährte. Edgar Bendler heißt Seilers Hauptfigur, ein von Georg Trakl beseelter Student der Literaturwissenschaft aus Halle an der Saale. Der Tod seiner bei einem Verkehrsunfall umgekommenen Freundin wirft ihn aus der Bahn, und so macht er sich kurzerhand nach Hiddensee auf, zur sagenumwobenen "Insel der Seligen, der Träumer und Traumtänzer", wo der lange Arm der SED nicht unmittelbar zu spüren ist.

"Wer hier war", heißt es, "hatte das Land verlassen, ohne die Grenze zu überschreiten", und genau darin liegt das Faszinosum dieser - vermeintlichen -"Enklave vor den Anfechtungen der restlichen Welt". Edgar findet Unterschlupf in der Gaststätte zum Klausner, wo im Sommer die Ost-Mark rollt und Saisonkräfte, die Esskaas, hoch begehrt sind. Edgar erhält ein Bett und einen Job in der Küche des Klausners, wo er sich Tag für Tag der mühsamen, von Seiler grandios beschriebenen Aufgabe widmet, die Geschirrberge von Soßenresten, verklebten Taschentüchern und Kippen zu reinigen. Es ist eine merkwürdige, aus der Zeit gefallene Gesellschaft von "Schiffbrüchigen", die Lutz Seiler da beschreibt. Mit den Reglementierungen der DDR wollen sie nichts zu tun haben, und das merkwürdige Eiland Hiddensee gewährt ihnen die Illusion, sich in einem unangetasteten Zwischenreich zu befinden. Die Saisonkräfte, die Namen wie Rimbaud oder Cavallo tragen, kommen am "Persotisch" zusammen, hören Deutschlandfunk aus ihrem "Viola"-Radio, feiern alkoholreiche Strandpartys, blicken voll Verachtung auf die Rindsrouladen mit Ostseeblick verschlingenden Tagestouristen und schauen hinüber nach Dänemark, zum "Urbild der Sehnsucht".

Eindringlich und kraftvoll

"Schirmherr" dieser Inselgesellschaft ist Alexander Krusowitsch, Sohn eines sowjetischen Generals und einer Artistin, der von allen "Kruso" genannt wird. Er regiert seinen "Bund der Eingeweihten" mit strenger Hand, verfügt über einen ausgeklügelten Plan von Unterkünften, die er den Neuankömmlingen zuweist, und sorgt dafür, dass seine sexuell bedürftigen Kumpane regelmäßig Zimmergenossinnen zugeführt bekommen. Seit Jahr und Tag lebt er auf Hiddensee -und trauert um seine Schwester, die auf rätselhafte Weise in der Ostsee verschwand.

So wenig Kruso, dessen Stiefvater ein berühmtes Institut für Strahlungsquellen auf Hiddensee leitete, mit dem DDR-System etwas anzufangen weiß, so gering ist sein Interesse, das Land zu verlassen. Er fabuliert lieber von einem "Versteck", von einem Ort, "wo man zurückkehrt in sich selbst, das heißt zur Natur". Merkwürdig versponnen wirkt dieses imaginierte Idyll, ganz so, als seien Hermann Hesses Morgenlandfahrer auferstanden, um ihr - wie es bei Hesse heißt - "Reich der Seele" zu erneuern.

Keinen Gedanken verschwendet Kruso an eine reale "Republikflucht"; er will den Sonderlingen, die sich auf Hiddensee tummeln, das Gefühl einer utopisch angehauchten Gemeinschaft bieten. Je weiter die Ereignisse des Sommers 1989 voranschreiten, je mehr DDR-Bürger über Ungarn in den Westen gelangen wollen, desto brüchiger erweist sich die romantisierte Enklave. Dem Klausner droht die Schließung; allein Edgar und der kranke, kurzzeitig verhaftete Kruso harren aus. Es ist nicht mehr notwendig, nächtens schwimmend oder surfend die dänische Freiheit zu suchen. Hiddensee verliert seinen magischen Reiz.

"Kruso" ist ein eindringlicher Roman, der mit literarischen Verweisen gespickt ist und von der Sprachgewalt seines Autors lebt. Lutz Seiler weiß Landschaften kraftvoll zu beschreiben und gleichzeitig homoerotische Verbindungen (zwischen Edgar und Kruso) zart anzudeuten. Er versteht es, ein Arsenal von Außenseitern zu porträtieren und so die Geschichte der untergehenden DDR von ihren Rändern her auszuleuchten.

Historisch wichtige Ergänzung

Dass der Roman autobiografisch grundiert ist -Seiler kam 1988 auf die Insel -, war in mehreren Interviews nachzulesen. Seiler lässt ihn in einem vierzigseitigen Epilog, in "Edgars Bericht", enden, der in einem ganz anderen, nüchternen Tonfall von Edgars Recherche (und damit wohl auch von der des Autors) nach Krusos Tod erzählt. Edgar will von den Schicksalen der 5600 Menschen berichten, die versuchten, nach Møn zu gelangen, und vor allem von denjenigen, die dabei umkamen und denen die Nachwelt kein Denkmal setzen konnte oder wollte. Er liest Fachliteratur, kontaktiert dänische Behörden und Institute und kommt Schritt für Schritt den vielen Ostseetoten auf die Spur.

Man mag darüber streiten, ob dieser Epilog, der ein Bruch ist, dem Roman ästhetisch gut tut. Lutz Seiler brauchte ihn offensichtlich als Kontrast zu seiner exterritorialen Hiddensee-Welt der nur metaphorisch Schiffbrüchigen um Alexander Krusowitsch, genannt Kruso. So erfährt der Roman am Ende ein eigentümliches Korrektiv, eine historisch wichtige Ergänzung. Es ist kein Wunder, dass Lutz Seiler für "Kruso" mit dem Deutschen Buchpreis 2014 ausgezeichnet worden ist.

Kruso

Von Lutz Seiler, Suhrkamp 2014.484 Seiten, gebunden, € 23,60

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