Inszeniert bis zur Schmerzgrenze

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Die ORF-Castingshow "Große Chance“ geht nächsten Freitag in die zweite Runde. Die Show hat wohl eine längere Halbwertszeit als ihre produzierten "Stars“.

"Du willst dich doch nur großmachen hier“: Es war eine Sternstunde der jüngeren ORF-Geschichte, als in der Show "Die große Chance“ der deutsche Rapper Sido den sich allmächtig wähnenden Kronenzeitungsschreiber Michel Jeannée in die Schranken wies. Und das war nicht das einzig Denkwürdige dieser Sendung: Mit der Geburt des Phänomens Conchita Wurst und der Kür einer offen in einer lesbischen Beziehung lebenden Gewinnerin signalisierte die Hauptabendsendung, dass einst verpönte Lebensformen im Mainstream angekommen sind. Niemand weiß, ob ab Freitag nächster Woche, wenn die nächste Ausgabe der "Großen Chance“ auf ORF eins über die Bühne geht, ähnlich Bemerkenswertes passieren wird. Denn eigentlich geht es um nichts anderes, als dass Sänger, Kabarettisten, Akrobaten, Zauberer und Artisten ihre Talente vor einem großen Publikum präsentieren.

Castingshows gehören längst zum Standardrepertoire fast jedes Fernsehsenders. Das Prinzip ist simpel: Die Kandidaten präsentieren ihre speziellen Talente - die Fernsehzuschauer, das Studiopublikum, eine Jury oder eine Kombination dieser Instanzen entscheidet, welche Bewerber ausscheiden oder in die nächste Runde kommen. Dem Gewinner soll durch seinen Preis - meist einen Plattenvertrag - die professionelle Ausübung seines Talents ermöglicht werden.

Castingshows werden geliebt und gehasst. Um jede Show schart sich eine Fangemeinde, die bestimmten Teilnehmern die Daumen drückt, anderen das baldige Ausscheiden wünscht und sich furchtbar über vermeintliche Ungerechtigkeiten aufregt. Auf der Gegenseite erheben sich die Stimmen jener, die Castingshows aus verschiedensten Gründen ablehnen: Minder Begabte und Bemittelte würden dazu verleitet, sich zum Gaudium des Publikums zum Narren zu machen, lautet ein Kritikpunkt. Die im Bewerb Erfolgreichen wiederum würden auf Basis von Knebelverträgen ausgebeutet werden. Auch, dass Castingshows ein fragwürdiges Menschenbild transportieren würden, wird oft kritisiert.

Die Sieger sind längst vergessen

Dem heimischen Fernsehzuschauer ist das Format bestens vertraut: Neun Jahre ist es her, dass der ORF 2003 mit "Starmania“ die erste österreichische Castingshow der jüngeren Vergangenheit produzierte: ein Gesangswettbewerb, dessen Gewinner ein Plattenvertrag winkte. Kurioserweise schaffte nicht der Sieger Michael Tschuggnall eine veritable Karriere als Popstar, sondern die Zweitplatzierte Christina Stürmer. Drei weitere Staffeln folgten, bevor sich die legendären Entscheidungsröhren 2009 beim letzten Finale aus dem Boden erhoben. Zwischendurch schweifte der ORF 2008 mit "Musical! Die Show“ von der Popmusik zum Musical ab, 2011 durften sich die mittlerweile zu "Helden von morgen“ umgetauften Kandidaten wieder in Interpretationen des gängigen Pop-Repertoires üben. Die erste Ausgabe der "Großen Chance“ im Vorjahr war der bislang letzte Streich des ORF in Sachen Castingshow. Neu daran ist, dass sich nicht nur Musiker, sondern auch Kabarettisten, Zauberer und Artisten jeglicher Art - eine Art postmoderne Freakshow - dem Publikum und der Jury stellen.

Freilich mischen auch die österreichischen Privat-Sender im Castingshowgeschäft mit. ATV versuchte sich mit "It’s Showtime“ und "Österreich sucht den Comedystar“. Auf Puls 4 liefen bislang vier Staffeln von "Austria’s Next Topmodel“, einem Klon der von Heidi Klum moderierten Show "Germany’s Next Topmodel“. Das "Next Topmodel“-Format sticht aus der Masse der Castingshows heraus, weil es nicht um eine primäre Form des Entertainments - wie etwa singen - geht. In der vielkritisierten Show werden Mädchen und junge Frauen durch den Fleischwolf des vermeintlich glamourösen Modelbusiness gedreht, der Siegerin winkt ein Knebelvertrag mit einer Modelagentur. Mit "Austria’s Next Footballstar“ hat Puls 4 dieses Konzept 2010 auf die Welt des Fußballs übertragen.

Alte Formate im neuen Gewand

Wann die Geburtsstunde der Castingshows schlug, ist strittig. Als Mutter aller modernen Castingshows gilt die Sendung "Star Search“, die ab 1983 in den USA ausgestrahlt wurde. Sie verhalf Superstars wie Britney Spears, Christina Aguilera, Beyoncé Knowles und Justin Timberlake zum Durchbruch. Die Show "Deutschland sucht den Superstar“, die vor allem durch die zynischen Kommentare von Jurymitglied Dieter Bohlen bekannt wurde, basiert auf diesem Format. Als erste moderne Castingshow im deutschsprachigen TV gilt "Popstars“, ein aus Neuseeland importiertes Format. Im Jahr 2000 fand sich auf RTL II die Girlband "No Angels“ und konnte mehrere Hits in den Charts landen.

Talentwettbewerbe im Fernsehen gab es freilich noch früher - sogar in Österreich. Nur die älteren Semester wissen noch, dass "Die Große Chance“ das Remake einer gleichnamigen Sendung ist, die schon von 1980 bis 1990 im ORF lief. Der Show fehlte allerdings jeglicher Wettbewerbscharakter. Blickt man noch weiter zurück, stößt man auf die ORF-Sendung "Show-Chance“, bei der von 1969 bis 1972 mehr oder weniger unbekannte Popsänger und -gruppen gegeneinander antraten. 1970 gewann Marianne Mendt mit dem Klassiker "Wie a Glock’n“ - allerdings hatte sie da schon einige Jahre Showbusiness auf dem Buckel.

Talentwettbewerbe sind älter als das Medium Fernsehen. Der für die Popkultur wohl einflussreichste Bewerb dieser Art heißt "Amateur Nights“ und findet im Apollo Theater im New Yorker Stadtteil Harlem statt. Seit 1934 dürfen sich dort Talente auf einer großen Bühne präsentieren. Unzählige große Stars wie etwa die Jazzsängerin Ella Fitzgerald hatten dort ihren ersten Auftritt.

Für die Sendung "Die große Chance“ hingegen wäre es schon ein Erfolg, wenn dadurch eine neue Christl Stürmer hervorgebracht würde. Wohl eher wird das Drumherum für Gesprächsstoff sorgen. Nachdem nun Peter Rapp, der die gleichnamige Sendung in den 1980ern präsentierte, neben Sido in der Jury sitzt, sind deutsch-österreichische Scharmützel -Wiener Schmäh gegen Berliner Schnautze - vorprogrammiert.

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