Ist in der Liebe alles wahr und falsch zugleich?

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Es ist eine kleine Episode, kurz nach der Mitte des Romans. Ein Autofahrer sieht, wie ein Mann eine Frau angreift, diese schreit um Hilfe: "Rufen Sie die Polizei!" Der herbeigerufene Polizist sagt zum Zeugen: "Ach, die kennen wir" und: "Das ist nur ein Ehestreit." Und fährt, ohne einzugreifen.

Die kurze Szene tippt ein Motiv an, dem Julian Barnesʼ neuer Roman "Die einzige Geschichte" zwar nicht viele Worte widmet, aber kaum Worte bedeutet nicht, dass etwas nicht da ist. Gewalt gegenüber der eigenen Frau und das Wegsehen und Schweigen -das ist heute immer noch ein Thema und war es auch in der englischen Mittelschicht vor 50 Jahren. Erst als der damals jugendliche Ich-Erzähler Paul bemerkt, dass seiner Geliebten von ihrem Ehemann sogar das Gebiss zertrümmert wurde, gehen ihm die Augen auf. "Es war wohl, denke ich mir, Ignoranz und Snobismus meinerseits, was mich bis dahin zu der Annahme verleitet hatte, häusliche Gewalt sei auf die Unterschicht beschränkt". Hier irrt Paul und er irrt auch, wenn er denkt, die Frau würde das Verhalten ihres Mannes zur Anzeige bringen oder wenigstens dem Zahnarzt die wahren Gründe für ihre Verletzung nennen. Sie wird nicht aussagen, wegen der Scham. "Der persönlichen Scham und der gesellschaftlichen Scham." Julian Barnesʼ neuer Roman ist eigentlich kein Roman über Gewalt an Frauen - aber doch auch. Er ist ein Roman über Erinnerung und nichts Geringeres als die Frage nach der Wahrheit und vor allem über das größte aller Gefühle, die Liebe.

Vorstadtidyllen

Doch zurück zum Anfang, der Liebe ebenso wie des Romans. Da brilliert Julian Barnes zunächst einmal mit Beschreibungen des Milieus des sogenannten Börsenmaklergürtels. Er führt seine Leser fünfzig Jahre zurück, in einen Vorort fünfzehn Meilen südlich von London, nach "The Village", wo die "Hugos" und "Carolines" Tennis spielen. "Das Letzte, was ich mit meinem Leben anfangen wollte, war, am Ende mit einer tennisspielenden Ehefrau und 2,4 Kindern in einem Vorort zu sitzen und zuzusehen, wie die wiederum ihre Partner in diesem Klub finden würden und so immer weiter, durch eine veritable Spiegelgalerie in eine endlose Liguster-und Kirschlorbeerzukunft."

Paul möchte da nie und nimmer dazugehören. Das Schicksal scheint es mit ihm gut zu meinen. Denn das Los teilt ihm Mrs Susan Macleod als Tennispartnerin für das Gemischte Doppel zu. Von den "Carolines" unterscheidet sie vieles, nicht nur dass sie ihren Mann "Mister Elefantenbuxe" nennt, sondern auch dass sie keine Kreuzworträtsel löst und für Labour ist. Paul ist neunzehn, Susan achtundvierzig. Sie hat zwei erwachsene Töchter und ein Vierteljahrhundert Ehe hinter sich - und einen großen Verlust zu verschmerzen: Ihr Verlobter ist an Leukämie gestorben.

Allmählich entspinnt sich eine Liebesgeschichte, die nicht nur Pauls Eltern nicht gefällt: Getuschel und der Ausschluss aus dem Tennisclub folgen, offene Auseinandersetzungen im Ort allerdings bleiben aus. Insgesamt zehn oder zwölf Jahre werden die beiden zusammen sein, die meiste Zeit davon in London, was in Zeiten der sexuellen Revolution, der sexuellen Freiheit geradezu retro wirkt. "Man könnte also sagen, dass meine Beziehung zu Susan ebenso gegen die neuen Normen verstieß wie gegen die alten."

Julian Barnes bleibt einem seiner Themen treu: der Erinnerung und der Frage, wie sie wirkt und wie sie zu erzählen ist. Einerseits geht er chronologisch vor, aber eben nicht nur. Er zeigt, dass die Erinnerung Interessen und Perspektiven hat und manches auslässt. Eher das Schöne, eher das Schlechte? Man kann es nicht sagen. Neben einer zarten Liebesgeschichte flicht Barnes auch essayistische Reflexionen über die Erinnerung ein, über die Versuche zu kategorisieren, über Worte und ihre Vorgeschichten, über Klischees, die zu vermeiden in Liebesgeschichten besonders schwierig ist. Diese Reflexionen kommen allerdings manchmal allzu erklärend daher.

Vom Ich zum Du zum Er

Der Roman beginnt in Ich-Form und man glaubt dem Ich-Erzähler die leidenschaftliche Liebe und die Erinnerung an die einzigartigen Ohren von Susan, die Verachtung für den Ort und die ausgesprochenen und unausgesprochenen Normen und Sitten. Der erste Abschnitt endet mit Pauls Abschiedsbrief an seine Eltern. Er zieht mit Susan nach London. Im zweiten Teil werden die gemeinsamen Jahre in London erinnert, doch wird da keine romantische Liebesgeschichte kredenzt. In seltsam alter Rollenaufteilung macht Susan den Haushalt, während Paul an seiner beruflichen Karriere arbeitet. Die Erzählform wechselt zum Du, als fände eine Selbstbefragung statt, eine Distanzierung zum Ich. Paul bemerkt, dass jene Frau, die Alkohol einst hasste, weil er Menschen verändert und nicht zum Besseren, sich nun selbst verändert, und dass sie durch ihr Weggehen viel mehr zu verlieren hatte als er. Barnes beschreibt die Hilflosigkeit, der zunehmend alkoholkranken Frau zu begegnen. Im dritten Teil werden in Er-Form auch kontrafaktische Geschichten entworfen. Fragen wie "Was wäre wenn?", begleiten Lebensrückblicke häufig. Es wird aber deutlich (und diese Vielschichtigkeit ist Barnesʼ große Kunst), dass auch dieser Ich-Erzähler ein unzuverlässiger Erzähler ist. Einige Fragen stellen sich beim Lesen ein: Hat Paul eigentlich Susans Worte verstanden, ohne Kenntnis ihrer Vorgeschichte? Hat er jemals darüber nachgedacht, wie es Susan ging, die die Tage alleine im Haus verbrachte? Was hat er je von Susan gesehen, außer die entzückenden Ohren und die Zähne, die kaputtgegangen sind? Was weiß er von ihrer Geschichte?

"Die Zeit, der Ort, das soziale Milieu? Ich weiß nicht, ob das in Geschichten über die Liebe wichtig ist", heißt es am Anfang und der Roman ist dann doch ein Beleg dafür, wie sehr Gesellschaft und Ökonomie Liebesgeschichten immer prägen. Das wusste schon Jane Austen, die auch den Zusammenhang von Liebe und praktischer Vernunft thematisierte wie kaum eine andere. Hatte Paul einst nur Verachtung für jene, die sich nicht trennten, weil eine Scheidung (zum Beispiel wegen des gemeinsamen Hauses) nicht "praktikabel" sei, so ist seine spätere Trennung von der alkoholkranken Susan allerdings dann äußerst "praktikabel", jedenfalls für ihn. Ja, und auch die Zeit schreibt sich ein in Liebesgeschichten, das merkt man nicht nur am Wandel der Sitten, sondern auch am Wandel der Worte.

Paul schreibt Sätze über die Liebe in sein Notizbuch, Sätze, die er selbst durchstreicht, wieder hinschreibt, wieder durchstreicht. Der Verlag hat das Motiv für das Cover übernommen. Hier steht "Die einzige Geschichte" einmal durchgestrichen und noch einmal dazugeschrieben. "Jeder Mensch hat seine Liebesgeschichte", sagt Susan einmal dem jugendlichen Geliebten. "Es ist die einzige Geschichte." Die von Susan kennt man nach Lektüre dieses Romans im Grunde nicht. Und die Leserin beschleicht das Gefühl, es wäre vielleicht die durchgestrichene.

Die einzige Geschichte Roman von Julian Barnes Aus dem Engl. von Gertraude Krueger Kiepenheuer&Witsch 2019 304 Seiten, geb., € 22,70

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