Die Unruhen in der Türkei fallen zeitlich zusammen mit den Enthüllungen über den US-Geheimdienst NSA. Gedanken zu Bürgerprotest und moderner Kommunikation.
Steht die Türkei am Scheideweg? Diese Frage wird seit Tagen heftig diskutiert (siehe auch Seite 9). Jenseits der tagesaktuellen Ereignisse lassen sich die wütenden Proteste in Istanbul und Ankara und das brutale Vorgehen der Staatsmacht auf der metapolitischen Ebene als Fanal verstehen. Nicht nur dass das Phänomen Bürgerprotest, das seit Beginn der Wirtschaftskrise neue Dimensionen angenommen hat und zum fixen Bestandteil der Dramaturgie öffentlichen Lebens geworden ist, hier eine dramatische Eskalationsstufe erreicht hat. Es ist auch nicht zu unterschätzen, dass das gerade in der Türkei passiert: jenem Land an der Schwelle zwischen Europa und Asien, an dem sich die Frage nach den Grenzen Europas in ganz besonderer Weise stellt und als letztlich unbeantwortbar erweist (was natürlich nichts an der Notwendigkeit realpolitischer Entscheidungen etwa im Hinblick auf das Verhältnis zur EU ändert). Der Protest, das große Unbehagen sind grenz- und kulturübergreifend, nichts spezifisch Europäisches, Westliches, Arabisches, Islamisches …
Die Gemengelagen sind natürlich denkbar heterogen. Was aber allen Protesten der letzten Jahre zugrundeliegt: Sie richten sich gegen das Überkommene, das - wie zuletzt vielleicht in den Sechzigerjahren - als überholt empfunden wird, als untauglich für die Zukunft, als wenig vertrauenswürdig wenn nicht gar völlig diskreditiert: ob das nun Politik, Wirtschaft oder Religion beziehungsweise die Repräsentanten diese "Systeme“ sind.
Smarte Kommunikation
Es mutet wie eine Pointe des Weltgeistes an, dass just in diesen Tagen auch die Enthüllungen eines Mitarbeiters des US-Geheimdienstes NSA die Welt in Atem halten. Denn die Causa macht in drastischer Weise die Kehrseite jener totalen globalen Vernetzung deutlich, ohne die auch all die neuen Formen des Protests nicht denkbar wären. Das Schlüsselwort lautet Kommunikation. Deren Formen und Möglichkeiten haben sich in den letzten Jahren in einer ungeahnten Weise verändert - und der Wandel scheint sich noch weiter zu beschleunigen. Was wir heute noch für den ultimativen Hype halten, wird in ein paar Jahren so alt ausschauen wie heute ein Handy (das waren diese unsmarten Dinger, mit denen man hauptsächlich telefonierte …).
Freiheit, Sicherheit und Privatspäre
Jeder einzelne kennt die Ambivalenz dieser Entwicklungen aus seinem persönlichen Bereich: zwischen ständiger Erreichbarkeit und der Möglichkeit ständigen Erreichens, zwischen schneller Abrufbarkeit von Inhalten und dem Zwang alles ständig abzurufen, zwischen der örtlichen Ungebundenheit bei Tätigkeiten aller Art und der Unterwanderung aller (Privat-)Bereiche durch ebendiese Tätigkeiten etc. Die Communication 2.0 schafft auch beispielsweise in Familie und Schule ebensoviele Probleme wie Möglichkeiten. Warum sollte es im großen, gar im globalen Maßstab anders sein?
Man könne nicht hundert Prozent Sicherheit und hundert Prozent Privatsphäre und null Unannehmlichkeiten haben: Was US-Präsident Barack Obama zur Rechtfertigung in der NSA-Causa gesagt hat, lässt sich auch anders lesen, als von ihm gemeint. Es gibt verschiedene Freiheiten, die in Konkurrenz zueinander treten (können). Oder anders: Die totale Freiheit der modernen Kommunikation gibt es nicht umsonst. Sie birgt die Gefahr, in Unfreiheit zu kippen, schon in sich. Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren. Aber auch umgekehrt gilt: (ein bestimmtes Maß an) Sicherheit ist das Substrat der Freiheit. Die Frage, ob wir das alles wollen, stellt sich nicht. Aber wenn uns die Zusammenhänge deutlich sind, ist schon viel gewonnen.
Im übrigen wäre das alles prinzipiell kein Problem, wenn der Mensch anständig, vernünftig und maßvoll wäre. Allerdings gäbe es dann auch viel weniger zu kommunizieren.
rudolf.mitloehner@furche.at
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