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*Hier ist Europa - verkünden die Poster an den Fenstern des Gemeindeamts von Dénesfa den EU-Beitritt Ungarns. Die Einheimischen sehen wenig Grund zur Freude. Ein Situationsbericht aus der westungarischen Provinz.

von sabine e. selzer

Schlag Mitternacht ertönt die ungarische Nationalhymne, "Isten, áldd meg a magyart - Gott schütze die Ungarn", wohl eine der traurigsten und schönsten der Welt. Alle im Kocsma, wie das Dorfbeisl auf Ungarisch heißt, fallen sich in die Arme, sie küssen sich, Glückwünsche werden ausgetauscht; es herrscht Feststimmung. Nein, die Rede ist nicht von der Nacht zum ersten Mai, dem Beitritt Ungarns zur Europäischen Union, die Rede ist von der Silvesterfeier ein paar Monate zuvor.

Wenig Lust zum Feiern

Heute aber scheint im "Pikoló Söröz´´o", der "Kleinen Bierstube", kaum jemandem zum Feiern zumute zu sein. Auch wenn im Fernsehen wieder die ungarische Hymne erklingt, und das schon lange vor Mitternacht. Ergriffen steht die Fußballmannschaft in Reih und Glied. Was, schon wieder gegen Brasilien? Das war doch schon am Mittwoch. Aber vielleicht haben wir auch etwas missverstanden, Fußball ist nicht wirklich unser Gebiet. Das Kocsma ist gut besucht. Einfach Freitag abend, oder hat man doch etwas zu feiern?

Wir ziehen uns mit Csaba, dem Baumeister, zur Besprechung an einen Ecktisch zurück und bringen das Gespräch alsbald auch auf Aktuelles: Ist der Abend heute für ihn ein besonderer? Warum das? Ach so, ja, natürlich, und eigentlich sieht er den EU-Beitritt auch durchaus positiv - als einer der wenigen hier, wie sich später noch herausstellen sollte. Aber irgendwie will die Unterhaltung doch nicht so recht beim EU-Thema bleiben. Wir behandeln die ungarische Geschichte rauf und runter, Türken, Habsburger, Russen - Ungarn war immer irgendjemandes Werkzeug, wirft Csaba ein, der EU ist also auch nicht ganz zu trauen: "Wir sind vor allem ein neuer Markt." - In Dublin, in Berlin, überall schon Feuerwerk, am H´´osök tere, dem Budapester Heldenplatz drängen sich die Menschenmassen, mit Fackeln und Sprühkerzen. Außer uns wirft kaum jemand einen Seitenblick auf das Programm im Fernsehen. - Das Gespräch dreht sich nun um Karl den IV. bzw. den I., der bei seinem letzten Restaurationsversuch 1921 auf einem Acker zwischen Cirák und Dénesfa landete, um gen Budapest zu ziehen, mit wenig Erfolg.

Wir befinden uns in einer geschichtsträchtigen Gegend, aber derzeit hat man sich aus historischen Zusammenhängen eher ausgeklinkt.

"Wir sollten die schwarze Fahne hissen, es ist aus mit Ungarn", meint Ilona, Vorarbeiterin in einer Fabrik für Spezialhandschuhe in Sopron, um aber kurz darauf einzuräumen, "für unsere Kinder und Enkelkinder wird es besser werden, aber wir werden es jetzt sehr schwer haben in den nächsten Jahren." Der EU-Beitritt ist also das Opfer, das man bringen muss? - "Für die Stadtbevölkerung ist es schon ganz gut, da hat man Möglichkeiten, die kann man dann auch nutzen", meint Lajos, der seit mehreren Jahren als Fleischer in Österreich arbeitet. "Aber am Land, da wird alles nur schwieriger. EU-Preise, aber keine EU-Gehälter. Viele haben nicht einmal einen Arbeitsplatz."

Notwendiges Opfer?

Dass die Leute kein Geld haben, merkt man auch am Konsumverhalten. "Früher kamen sie Bier trinken, heute geht alles für Gas- und Strom und sonstige Rechnungen drauf", fasst der Wirt zusammen. In den 80er Jahren hat er zwölf 50-Liter-Fässer pro Woche bestellt, jetzt braucht er eines in zwei Wochen. Und mit mehr Gesundheitsbewusstsein habe das nichts zu tun, es liege rein am mangelnden Budget der Gäste. Auf unsere Frage, wie das alles mit der EU zusammenhängt, ist man sich einig: gar nicht. Aber das ist es eben, was die Menschen hier beschäftigt, sie machen sich Sorgen um die wirtschaftliche Lage Ungarns und erwarten vom EU-Beitritt absolut kein Wunder.

Im Gegenteil.

Wir sollten doch lieber über den Schlosspark schreiben, schlägt einer unserer Nachbarn vor, der ist schön... Das stimmt. Das Schloss der Grafen Ciráky beherbergt heute eine Entzugsanstalt für Alkoholiker, im Dorf meist einfach "Krankenhaus" genannt, und in den idyllischen Park drum herum kommen immer wieder frisch vermählte Paare, um für die Hochzeitsfotos zu posieren.

Mit und ohne EU.

Das Bier kostet gleich viel

Tibi, der Wirt, bringt schließlich doch noch die allgemeine Dorf-Stimmung auf den Punkt, während im - mittlerweile bis auf ihn und uns menschenleeren - Kocsma nach der ungarischen die Eurovisonshymne aus dem Fernsehapparat erklingt: "Und: jetzt ist es Mitternacht vorbei. Ist irgendetwas anders?"

Das Bier kostet bei ihm jedenfalls immer noch das gleiche.

Und das wird wohl auch zum nächsten Jahreswechsel so sein, wenn sich wieder alle im Dorf zu den schönen, traurigen Klängen der Nationalhymne in den Armen liegen und ergriffen singen: "Hozz rá vig esztend´´ot, megb´´unhödte már e nép a multat s jövend´´ot - beschere uns ein frohes Jahr, dieses Volk hat bereits gebüßt, die Vergangenheit und die Zukunft!"

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