Japanische Bankzeremonie

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Jetzt war also auch ich drüben, begeistert und befremdet, staunend und ratlos. Meine japanische Lesereise führte mich von Tokio ins Gebirge nach Nozawa Onsen, wo alljährlich die Germanisten tagen und in einer heißen Schwefelquelle baden, über Hiroshima nach Yamagucci, das mit seinem schier unendlichen Gewerbegebiet aussieht, als wäre das oberösterreichische Wels ausgewandert und endgültig wahnsinnig geworden, und schließlich nach Kagoshima: dort, im äußersten Süden, eignet selbst dem sonst so regelstrengen Japan etwas Levantinisches.

Als ich vor meiner ersten Lesung in Tokio in den Saal blickte, fiel mir auf, dass ein gutes Viertel der Anwesenden nicht gekommen war, um mir zu lauschen, sondern um tief in sich hineinzulauschen: In der Öffentlichkeit zu schlafen gilt in diesem Land, in dem der hektische urbane Alltag von einer kollektiven Höflichkeit gezähmt wird, nicht für unhöflich. Die Japaner schlafen überall, ich habe welche gesehen, die haben die Zeit, die sie auf das grüne Signal beim Fußgängerübergang warteten, für ein kleines Nickerchen genützt, und andere, denen beim Abendessen zwischen zwei Bissen kurz die Augen zuklappten. Die ganze Nation ist übermüdet, von den Anfahrtswegen in den riesigen Städten, von den langen Arbeitszeiten … Sie müssen länger arbeiten, denn sie arbeiten weniger produktiv als die Europäer. Uralte Traditionen des Zeremoniells sind im japanischen Kapitalismus wichtiger als Effizienz. Ob in Büros oder Banken, die Arbeitsabläufe sind ungleich komplizierter als in Europa, und selbst für etwas so Simples wie eine geringe Summe Geld zu wechseln bedarf es mehrerer Angestellter, von denen jedem eine ganz bestimmte Rolle im theatralischen Akt zukommt. Nach einer guten halben Stunde erhält man vom Filialleiter mit vollendeter Verbeugung in einem Körbchen sein Geld überreicht, das man anderswo in der Zwischenzeit schon wieder ausgegeben hätte. Ja, wundersam langsam geht es in diesem Land zu, das für seine Geschwindigkeit berühmt ist.

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