Marcel Reich-Ranicki: Jede Kritik eine Polemik

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Er verkörpert wie kein anderer die „Literaturkritik“: Marcel Reich-Ranicki, der umstrittene „Literaturpapst“. Am 2. Juni feiert er seinen 90. Geburtstag.

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Er verkörpert wie kein anderer die „Literaturkritik“: Marcel Reich-Ranicki, der umstrittene „Literaturpapst“. Am 2. Juni feiert er seinen 90. Geburtstag.

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Ihn kennen selbst jene, die sich für Literatur nicht interessieren: Marcel Reich-Ranicki hat die Literatur ins mediale Gespräch gebracht wie kaum jemand anderer. Wer von ihm im legendären „Literarischen Quartett“ gelobt wurde, konnte sich guter Verkaufszahlen sicher sein, wer von ihm verrissen wurde, vergaß dies nie. Michael Köhlmeier wird sich wohl immer erinnern an jene Sendung, in der Reich-Ranicki über den Roman „Kalypso“ urteilte: „Ich habe selten etwas so Schreckliches gelesen in den letzten Monaten“, „ein absolut erbärmliches Buch“. In dieser Sendung war Wendelin Schmidt-Dengler zu Gast, vergeblich versuchte er zu argumentieren. Wenn Marcel Reich-Ranicki etwas nicht gefällt, braucht es keine Argumentation. Dann reicht das abfällige Wort, die abschätzige Geste. Wo die Argumentation fehlt, da ersetzt sie die Autorität: ein Verständnis von Kritik, das der Kritik eigentlich widerspricht.

Kein Wunder, dass Reich-Ranicki unter Autoren nicht nur Freunde hat – viele Streits spielten sich in der Öffentlichkeit ab: 1995 verriss er Günter Grass’ Roman „Ein weites Feld“ (das Spiegel-Cover zeigte einen „Zerriss“), der Streit mit Martin Walser gipfelte in der Diskussion um dessen Roman „Tod eines Kritikers“.

„Pädagogische“ Literaturkritik

Auch wenn Reich-Ranicki seine eigentliche Tätigkeit in der schriftlichen Kritik sieht: Ohne das „Literarische Quartett“, das er von 1988 bis 2001 leitete, hätte er diese Berühmtheit nicht erlangt: nicht als Leiter der Redaktion für Literatur und literarisches Leben bei der FAZ (1973–1988), nicht mit seiner Serie „Frankfurter Anthologie“, auch nicht als Mitinitiator des Ingeborg-Bachmann-Preises, wo er 1977–1986 als Sprecher der Jury wirkte.

Reich-Ranicki versteht Literaturkritik „pädagogisch“: Sie soll „die Nichtkönner abschrecken, die Mittelmäßigen zu Bedeutenderem nötigen, die Großen warnen und, vor allem, die Leser bilden.“ Zu diesem Zwecke hat er sich viel erlaubt, zu viel vielleicht. Reich-Ranickis Verrisse sind Legion (und wurden auch Buch: „Lauter Verrisse“). Er sieht sich selbst „in zwei Rollen“ gleichzeitig, „als Rechtsanwalt und als Staatsanwalt“. Vor allem aber tritt er als Richter auf, der ein entschiedenes Urteil fällt, in einer Sprache, die an Eindeutigkeit nicht zu wünschen übrig lässt.

Den Daumen nach oben oder nach unten: Reich-Ranicki fordert ein entschiedenes Ja oder Nein, auch wenn er weiß, dass Irrtümer möglich sind. Man „muß mit Irrtümern rechnen, … muß sie in Kauf nehmen. Denn oft bedarf das Plädoyer bereits nach wenigen Jahren einer Korrektur“. Die eigene Rolle und Haltung, die Art und Weise seiner Machtausübung stellt Reich-Ranicki anscheinend nie infrage. „Also gut, der erste Grund ist sozusagen der pure Egoismus. Es macht Spaß zu schreiben, man drückt sich gern aus, man möchte überlegen sein.“ Reich-Ranicki hat kein Problem, „Ich“ zu sagen, was auch Ausdruck in seinen Buchtiteln findet: „Mein Kafka“, „Mein Büchner“ – Reich-Ranickis offenkundige Subjektivität steht im Gegensatz zur Gültigkeit, die seine Urteile beanspruchen wollen.

Kein Wunder, dass sich an ihm die Geister scheiden: Hat er doch einerseits der Literatur zu ungeheurer Popularität verholfen, andererseits bleibt die Frage berechtigt, ob, wer derart über die Literatur richtet, sie nicht gar vernichtet.

Literaturverhinderung

Eine Kritik, so Reich-Ranicki, „die es verdient, eine Kritik genannt zu werden“, ist immer auch Polemik. In ihr „verbirgt“ sich ein „Bekenntnis, dem sich mehr oder weniger genau entnehmen läßt, welche Art Literatur der Kritiker anstrebt und welche er verhindern möchte“. Der Literaturkritiker als Verhinderer, als Zensor: Mit Zensur hatte Reich-Ranicki im Lauf seines Lebens viel zu tun: als Zensurierter im stalinistischen Polen (in seiner Autobiografie scheint die Erinnerung an die breite Couch der Zensorin eindrücklicher zu sein als jene an die eingebauten Stalinzitate), aber auch als Zensurierer: in der Zentrale der Postzensur, die dem Ministerium für Öffentliche Sicherheit unterstand. Er scheint sich sehr bewährt zu haben, landet er danach doch für den polnischen Geheimdienst zunächst in Berlin, dann in London, wofür er sich den Namen Ranicki zulegt (weil der Name „Reich“ zu belastet war) und wo er sogar Konsul wird.

Eine schillernde Gestalt, ein bewegtes Leben, das zunächst einmal ein Überleben war: Am 2. Juni 1920 in Polen geboren, kam Marcel Reich als Kind nach Berlin, 1938 wurde er mit vielen anderen Juden deportiert, doch der Krieg holte ihn in Warschau ein. Seine Deutschkenntnisse verhalfen ihm 1940 zu einer Anstellung im „Judenrat“, und so musste er am 22. Juli 1942 das „Todesurteil“ protokollieren: nämlich die Räumung des Warschauer Gettos. An diesem Tag heiratete er Teofila (Tosia), denn Angehörige von jenen, die im Judenrat arbeiteten, blieben verschont – zunächst. Die Eltern und der Bruder wurden ermordet. Tosia und Marcel flohen 1943 aus dem Getto und überlebten versteckt. Es war eine Zeit, erzählt Reich-Ranicki in seiner Autobiografie „,Mein Leben“, in der er keine Romane lesen konnte, nur die Lyrik war ihm Hilfe, vor allem Erich Kästners „Lyrische Hausapotheke“, die Tosia für ihn abgeschrieben und illustriert hatte.

Getto, Versteck, Geheimdienst

Dass Reich-Ranicki nach dem Krieg im polnischen Geheimdienst arbeitete, hatte er selbst engsten Freunden verschwiegen. Auch als 1994 eine Debatte darüber losbrach, sagte er nur wenig. Später bekannte er, es war richtig, für den Geheimdienst zu arbeiten, Details ließ er aber immer aus und in seiner Autobiografie liest sich das Kapitel seines Lebens wie ein Ausprobieren von Spionageromanen. Er „hat früh gelernt“, schreibt Gerhard Gnauck kritisch über Reich-Ranickis polnische Jahre, „seine Biografie, den jeweiligen Umständen entsprechend, immer wieder neu zu erzählen“. 1950 wurde Reich-Ranicki aber aus dem Ministerium, dann auch aus der Partei ausgeschlossen und später auch mit Publikationsverbot belegt. 1958 flüchteten die Reich-Ranickis mit dem Sohn aus dem stalinistischen Polen in die Bundesrepublik.

Seine Bedeutung als Kritiker ist unbestritten, dass er die Bedeutung der Kritik stets betonte, bleibt ein wichtiges Verdienst. Wie man Kritik betreibt, ist eine andere Sache. Aber Leser haben sich glücklicherweise emanzipiert und sehen in den richterlichen Gebärden eher den Unterhaltungswert. Dass aber Kritik nötig ist, steht außer Frage, denn „Freiheit und Kritik bedingen sich gegenseitig. Wie es also keine Freiheit ohne Kritik geben kann, so kann auch die Kritik nicht ohne die Freiheit existieren“. Gerade in einer Zeit, in der der Journalismus in Gefahr steht, zum verlängerten PR-Arm von politischen oder wirtschaftlichen Interessen zu verkommen, muss man an Reich-Ranickis Plädoyer für die Kritik erinnern – und an Michel Foucault, der die Kritik als Kunst verstand, „nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden“.

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