Jeder verstand etwas anderes darunter .../Die vergessene Revolution

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Der - gescheiterte - Kremsierer Verfassungsentwurf wollte einen Vielvölkerstaat zur Einheit in der Vielfalt bringen.

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Der - gescheiterte - Kremsierer Verfassungsentwurf wollte einen Vielvölkerstaat zur Einheit in der Vielfalt bringen.

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Die Revolution von 1848 ist nicht in die Tradition der demokratischen Republik Österreich eingegangen. Wenn beim Neujahrskonzert der Radetzkymarsch vom Publikum geklatscht wird, so denken wenige daran, daß damit die Konterrevolution beklatscht wird.

Wenn es auch einen Revolutionspatriotismus gibt, so hat sich doch die Revolution in unserer Konstitution durchgesetzt. Das Bundes-Verfassungsgesetz 1920 (B-VG) ist unter den heute geltenden Verfassungen Europas eine der ältesten und brachte in mancher Weise die Revolution von 1848 zu einem normativen Abschluß. Es drückt die politische Freiheit als politischen Grundkonsens rechtlich aus. Es ist die stärkste politische Willenserklärung, die wichtigste Rechtsnorm und vermittelt als Grundordnung des Gemeinwesens Identität und Kontinuität.

Aus der politischen Verlassenschaft der Revolution von 1848 hat das B-VG ein verpflichtendes Freiheitserbgut gemacht. Die erste erkämpfte Freiheit war die Abschaffung der Zensur am 15. März 1848. Der Weg zur Konstitution war noch weit und endete in Kremsier. Es kam zur Wahl eines konstituierenden Reichstages, der am 22. Juli 1848 in Wien eröffnet wurde. Sein wichtigster bleibender politischer Akt war die Aufhebung der Grunduntertänigkeit und die Bauernbefreiung überhaupt. Aber der Reichstag konnte eine Konstitution nur entwerfen. Die Macht des Militärs wurde zur Realverfassung des jungen Kaisers Franz Joseph, der am 2. Dezember 1848 den Thron bestieg.

Dieser Realität stand die Idealität des Kremsierer Entwurfes gegenüber. Seine erster Teil, die "Grundrechte des österreichischen Volkes", hat vor allem die Freiheit vom Staat zum Inhalt und ist in manchem liberaler als der heutige Grundrechtskatalog. Die Grundakte beginnen mit dem Satz: "Alle Staatsgewalten gehen vom Volke aus und werden auf die in der Konstitution festgesetzte Weise ausgeübt." Sie nehmen damit den Artikel 1 B-VG - "Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus." - vorweg. Die "Grundrechte" sind ein Hohelied des Liberalismus. Die neuen Machthaber konnten das nicht akzeptieren. Militärmacht und ein kaiserliches Manifest vom 4. März 1889 brachten das Ende des ersten freigewählten Parlaments.

Der zweite Teil des Kremsierer Entwurfes, die "Konstitutionsurkunde für die österreichischen Staaten", bestimmt Österreich als "unteilbare konstitutionelle Erbmonarchie", wobei die Länder des "Kaiserreiches" als gleichberechtigt und autonom erklärt werden.

Insgesamt nimmt der Kremsierer Verfassungsentwurf vieles vorweg, was dann im B-VG seine Ausgestaltung erfahren hat. Dazu gehören vor allem Rechtsstaatlichkeit, Parlamentarismus und Föderalismus. Sie sind als Formen der politischen Freiheit vom und im Staat 1848 in die österreichische Geschichte eingetreten, wobei der Föderalismus schon im Mittelalter vorgeformt war. Der Absolutismus führte zwar zur Verprovinzialisierung der Länder, aber selbst Metternich nannte Österreich im Vormärz "gleichsam einen Föderativstaat". Freilich hat die intendierende Uniformität des Absolutismus einen Rationalismus von oben in der Politik bewirkt, welcher der Bundesstaatlichkeit bis heute eine unitarische Prägung gibt.

Nach dem Kremsierer Entwurf sind Gesetzgebung und Vollziehung auf Reich und Länder aufgeteilt und diese durch eine von ihnen beschickte Kammer an der Reichsgesetzgebung beteiligt. Es ist ein unitarischer Bundesstaat, denn die wichtigsten und meisten Zuständigkeiten sind dem zentralen System zugewiesen. Im Zweifel ist überhaupt die Zentralgewalt zuständig. Die Länder sind schon damals von der Gerichtsbarkeit ausgeschlossen. Hinsichtlich der Bestellung der Volkskammer und der Länderkammer ist das Zwei-Kammersystem in beiden Verfassungen gleichartig, hinsichtlich ihrer Stellung im Gesetzgebungsverfahren unterschiedlich. Hier ist der Kremsierer Entwurf länderfreundlicher und macht zu jedem Beschluß des Gesamtparlaments einen übereinstimmenden Beschluß beider Kammern erforderlich. Das Einkammersystem in den Ländern ist dagegen ähnlich wie heute gestaltet; die Abgeordneten der Landtage sind nach der Volks- beziehungsweise Bürgerzahl zu wählen. Das Wahlrecht ist nach einheitlichen Grundsätzen gestaltet wie heute. Schließlich sind die Länder im Entwurf wie im B-VG hinsichtlich ihrer Verfassung nur an die durch die gesamtstaatliche Verfassung aufgestellten Schranken gebunden. Beide Verfassungen räumen im übrigen dem Staatsoberhaupt sowohl das Recht zur Auflösung des Zentralparlamentes als auch zur Auflösung der Landtage ein. In beiden Verfassungen ist ein Vollzugsföderalismus festgelegt. Auch die Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts ist zentralisiert wie im B-VG. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit sind in beiden Verfassungen ähnlich gestaltet, allerdings bestehen hinsichtlich der Normenkontrolle nur Ansätze beim Reichsgericht.

Der Kremsierer Entwurf wollte einen Vielvölkerstaat zur Einheit in der Vielfalt bringen. Es ging vor allem um die Berücksichtigung der Nationalitäten. Das Nationalitätenproblem sollte durch die Einrichtung national möglichst einheitlich abgegrenzter Kreise in den von mehreren Volksstämmen bewohnten Ländern gelöst werden. Die Berücksichtigung der Nationalitäten bei Bildung der Landtagswahlbezirke, vor allem aber durch die Aufstellung nationaler Schiedsgerichte in den Ländern von gemischter Nationalität, wurde als zukunftsführender Weg gesehen.

Der Kremsierer Entwurf wollte einen monarchischen Bundesstaat schaffen. Das Regierungssystem des Reiches war dem Kaiser als Oberhaupt des Gesamtstaates, das Regierungssystem der Länder dem Kaiser als Oberhaupt des einzelnen Landes zugedacht. Die Funktion als Reichsoberhaupt sollte sich aus der Stellung als Oberhaupt der einzelnen Länder ergeben. Damit wäre der monarchische, unitarische Bundesstaat Österreich in seiner Art einmalig dem republikanischen, föderalistischen Bundesstaat USA gegenübergestanden.

Der Kremsierer Entwurf scheiterte an der Legitimitätsfrage und den tatsächlichen Machtverhältnissen. Die Souveränität des Volkes und der Verfassung mußte der Macht des Kaisers und des Militärs weichen. Bis 1918 blieb der Kaiser "geheiligt, unverletzlich und unverantwortlich" und formell Träger aller drei Staatsgewalten.

Der Autor ist Professor für Rechtslehre an der Universität für Bodenkultur in Wien.

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